Joachim Löw zum 60.
Er hat Respekt vor dem Alter und der Zahl: 60 Jahre – An Rente denkt Joachim Löw allerdings nicht
Schon den 50. Geburtstag hat Joachim Löw (Foto: Imago-Images) im Amt des Bundestrainers gefeiert. Am heutigen Montag wird er 60 – und denkt noch lange nicht an Ruhestand. Sein Vertrag als Bundestrainer läuft bis zur Winter-WM 2022 in Katar. Über seine berufliche Zukunft wird aber bereits bei der EM im Sommer entschieden.
„Ich brauche hin und wieder einen besonderen Kick.“
Joachim Löw über seine Leidenschaft für die Fliegerei
- „Der Geburtstag ist für mich nichts Besonderes, eher wie seit Jahren ein normaler Arbeitstag, weil er inmitten der Saison ist.“Sprach Joachim Löw, der Bundestrainer. Der Jogi, wie man ihn seit Kindertagen ruft. Joachim nennt ihn lediglich seine Mutter Hildegard. „Nichts Besonderes“– schön geflunkert. Das Zitat stammt aus dem Jahre 2010, als der in Schönau im Schwarzwald geborene Löw seinen 50. Geburtstag feierte.
Von wegen ein normaler Tag. „Das war eine Party, wie ich sie selten erlebt habe“, verriet sein guter Freund Hansi Flick kürzlich der „Sport Bild“. 70er-Jahre lautete das Motto der Fete. Als Überraschungsgast war Schlagersänger Dieter Thomas Kuhn gekommen. Da wird Löw zum Fan. Halligalli mit Jogi – leider gelangten nie Bilder an die Öffentlichkeit. „Alle waren verkleidet und trugen Schlaghosen“, erinnert sich Weggefährte Flick, seit November Cheftrainer des FC Bayern, „Jogi ist da sehr kreativ, er liebt es, mit Freunden eine gesellige Zeit zu haben.“
Gute Freunde, gute Gespräche, ein schöner Rotwein sowie italienische oder eben deutsche Schlager, etwa Udo Jürgens. Er will kein „Gefangener des Fußballs sein“, sagte Löw einmal, er „lechze“geradezu danach, mit Freunden Gespräche zu führen, die nichts mit Fußball zu tun haben. Diesen Löw kennt die Öffentlichkeit nicht. Der Rückzug ist sein Ventil, um den Druck abzulassen. Den Druck eines Jobs, den Millionen von Fußballfans glauben, besser machen zu können: Bundestrainer.
Schon 14 Jahre hält er der Wucht dieser Aufgabe stand, seit seinem Debüt im August 2006. Zu seinem 60. Geburtstag an diesem Montag werden sich Lobeshymnen über ihn ergießen wie nach dem WM-Titel 2014 in Brasilien, der Krönung seines Wirkens beim DFB. Doch weder nach dem rauschenden Gipfelsturm noch nach dem jähen Absturz bei der WM 2018 in Russland, als die deutsche Mannschaft in der Rolle des Titelverteidigers jämmerlich in der Vorrunde scheiterte, hat Löw die Extreme in seinen Gedanken obsiegen lassen: Rückzug als Triumphator? Nein. Flucht aus dem Amt als Versager? Noch weniger. Er hat sich weiter gestellt. Der Herausforderung. Den Besserwissern. Und letztes Jahr dem Umbruch. Das gelingt einem nur, wenn man mit sich im Reinen ist – oder wie es Löw selbst formuliert: „Ich versuche, im Gleichgewicht zu bleiben. Dafür habe ich gewisse Mechanismen.“
Raus in die Natur zum Beispiel – ganz ohne Handy. „Das bleibt dann konsequent aus“, erzählte er der „Berliner Morgenpost“neulich, „bis vor ein paar Jahren konnte ich das nicht.“Freiheit für den Kopf, das ist das eine. Die körperliche Fitness ist die andere Seite: Sport als Ausgleich. Am Tag eines Länderspiels geht er nachmittags eine Stunde in den Fitnessraum des Hotels: Muskeln anspannen zur Entspannung. Auch auf den Platz geht er hin und wieder. Mit Freunden, ganz easy, ganz locker. In Freiburg ist das möglich. Dort, wo 1978 seine Profikarriere in der Zweiten Liga begann. Als Stürmer kam er auf 83 Pflichtspieltore, erst kürzlich löste ihn Nils Petersen, den er zum Nationalspieler machte, als Rekordtorschütze des Sportclubs ab.
Freiburg und Berlin – Löw schätzt den Kontrast, pendelt am liebsten mit der Bahn. In der hektischen Hauptstadt Berlin hat er eine Wohnung. Sein Anker aber ist die südbadische Heimat, dort besitzt er ein Haus. Freiburg ist sein Wohnzimmer ohne Dach, hier kann er sich frei bewegen. Sonnenbrille auf und per Cabrio ab ins Café. Espresso? Wie immer? Natürlich. Mille grazie. Freiburger Freiheit. Hier ist er Jogi, hier darf er’s sein. Seine Nahbarkeit, seine Höflichkeit, seine Freundlichkeit – all das hat er sich immer bewahrt. Abseits der stressigen Turnierwochen mit tausend Sorgen, Fragen und Anfragen ist Löw für einen kurzen Plausch zu haben, für jedes Selfie oder einen Autogrammwunsch. Bekannte Gesichter, auch unter den Journalisten, grüßt er per Handschlag oder aus der Distanz mit einem freundlichen Lächeln. Ein gewinnender Typ. Auch im Misserfolg.
Seine Zeit als Nationaltrainer sollte nicht mit einem Desaster enden, mit dem Debakel von Russland bei der WM 2018. Keiner seiner Vorgänger hat so viele Länderspiele wie Löw, 181 sind es bis dato. Kaum einer war zeitweise so beliebt wie Everybody’s Jogi, den die Leute auch deshalb so mögen, weil er einfach nicht mit dem Rauchen aufhören kann – trotz mehrerer Versuche. Weil auch er, zu Hause einst der älteste von vier Brüdern, nach dem Fachoberschulabschluss und der
Lehre zum Großhandelskaufmann später einen anderen Weg einschlug und Fußballer wurde. Weil auch er eine gescheiterte Ehe hinter sich hat. 2016 trennte er sich ohne Nachtreten und mediale Schlammschlacht von Ehefrau Daniela. Dass sich der gefühlt ewige Bundestrainer nach der EM in diesem Sommer von seinem Traumjob trennt und aufhört, ist nicht ausgeschlossen. Wenn er tatsächlich den Titel holen sollte. Mehr ginge dann wirklich nicht mehr. Oder eben falls man die im Fachjargon gerne „Hammergruppe“getaufte Vorrunde mit Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal nicht übersteht. An diesem Turnier wird Löw nun gemessen, ein zweites Vorrundenaus darf er sich nicht erlauben. Erreicht die neu formatierte Mannschaft mindestens das Halbfinale, dürfte Löw auch die Wüsten-WM 2022 in Katar angehen. Sein Fernziel als zweite Karrierekrönung ist die Heim-EM 2024. Daher hält er dieses Jahr andere Nationen für reifer, und zwar die Spanier, Franzosen, Italiener, Engländer und Holländer. „Dass wir mit der jungen Mannschaft zu den Topfavoriten zählen, glaube ich nicht, weil viele Spieler mit der Entwicklung noch ein bisschen weiter sein müssen“, glaubt Löw, „in zwei oder vier Jahren, wenn sie dann vielleicht auf dem Höhepunkt sind.“Man hört heraus: Da hat einer noch lange nicht genug.
Im Übergangsjahr 2019, einem Jahr ohne Turnier, das für Nationaltrainer immer aus Testen und Tüfteln besteht, hat Löw endlich den Umbruch durchgezogen und zwar radikal und spektakulär, weil konspirativ. Im März teilte er aus dem Nichts Jérôme Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller in München persönlich mit, dass sie nicht mehr zum Kreis der Nationalelf zählen. Er baute ein neues Team um die Routiniers Manuel Neuer, den Kapitän, und Spielmacher Toni Kroos.
Emanzipieren sollte sich eine neue Hierarchie um Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Matthias Ginter. Diese neue Mannschaft, durch langfristige Verletzungen von Niklas Süle, Leroy Sané und Antonio Rüdiger in einen Umbruch innerhalb des Umbruchs getrieben, ist dabei, sich zu finden, den neuen Spielstil zu adaptieren. Robuster, mehr Körperlichkeit, mehr Tempo – weg vom Ballbesitz- und Dominanzfußball der Vorgängergeneration, mit dem man in Russland krachend scheiterte. Löw hat einen Neustart gemacht, als Trainer neue Wege beschritten. Ob die Updates greifen, wird dieses Jahr zeigen. „Die Änderung des Spielstils hat er absolut geprägt“, sagt Flick, der acht Jahre lang Löws Assistent bei der Nationalelf war. „Jogi ist für mich ein sehr guter Trainer, der eine Mannschaft sehr gut führen und ihr Stärke vermitteln kann. Als Trainer hat er alles erreicht.“
Auch für sein Ego? Löw liebt es, ans Limit zu stoßen, im mentalen und körperlichen Bereich. „Ich möchte Mut, Risiko, und ich möchte Freiheit.“Daher will er hoch hinaus. Ob Hubschrauber, Paragliding oder Ultraleichtflug. „Ich habe fast alle Möglichkeiten der Fliegerei ausprobiert. Ich brauche hin und wieder einen besonderen Kick“, gesteht er. 2003 hat der kinderlose Löw mit einem Freund den Kilimandscharo (5895 Meter) bestiegen – in sechs Tagen. „Ich habe so viel gelernt beim Aufstieg. Über mich, über den Willen und übers Durchhalten.“Vielleicht ist er auch dank dieser Grenzerfahrung „als Persönlichkeit total beständig“, wie Neuer sagt.
Nun wird er 60. „Man hat schon ein bisschen Respekt vor dem Alter und der Zahl“, gesteht Löw. „Das ist früher auch irgendwie das Rentenalter gewesen mit 60. Heute ist es vielleicht nicht mehr so. Am Ende ist es immer so, wie man sich fühlt.“Und in zehn Jahren? Mit 70 noch Trainer? Löw schüttelt den Kopf, sagt entschieden: „Undenkbar.“