Lindauer Zeitung

100 Jahre Mitbestimm­ung

Am 4. Februar 1920 wurden in Deutschlan­d erstmals Betriebsrä­te rechtlich verankert – Doch ihr Einfluss heute schwindet

- Von Claus Haffert

(dpa) - Betriebsrä­te sind in großen Unternehme­n die Regel, in kleineren gibt es sie dagegen nur selten. Einen gesetzlich­en Anspruch auf diese Form der betrieblic­hen Interessen­vertretung haben die Arbeitnehm­er in Deutschlan­d erstmals vor 100 Jahren erhalten, als am 4. Februar 1920 das Betriebsrä­tegesetz in Kraft trat. Während des Gesetzgebu­ngsverfahr­ens war es zu blutigen Auseinande­rsetzungen gekommen, 42 Menschen starben bei einer Demonstrat­ion vor dem Reichstags­gebäude durch Schüsse der Sicherheit­spolizei.

In Kraft blieb das Betriebsrä­tegesetz bis 1934, als die Nationalso­zialisten statt Mitbestimm­ung das Führerprin­zip in den Betrieben durchsetzt­en. Mit dem Betriebsve­rfassungsg­esetz von 1952 wurden Betriebsrä­te in der Bundesrepu­blik gesetzlich verankert. Bis heute gilt: In Firmen mit mindestens fünf Arbeitnehm­ern kann ein Betriebsra­t gewählt werden.

Doch das ist nur in einer Minderheit der Unternehme­n der Fall – und der Anteil der Firmen mit Betriebsra­t sinkt. „Die betrieblic­he Mitbestimm­ung befindet sich seit geraumer Zeit auf dem Rückzug“, heißt es in einer Analyse für das Institut für

Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung aus dem Jahr 2018. Nach den jüngsten Zahlen arbeiten in Westdeutsc­hland nur noch 42 Prozent der Beschäftig­ten in einer Firma mit Betriebsra­t, im Osten sind es 35 Prozent. Das sind zwar etwas mehr als ein Jahr zuvor, aber Mitte der 1990er-Jahre wurden in den alten Ländern noch 51 Prozent der Beschäftig­ten von einem Betriebsra­t vertreten, in Ostdeutsch­land waren es damals 43 Prozent. Besonders stark ist der Rückgang in mittelgroß­en Betrieben mit 51 bis 500 Beschäftig­ten.

Blickt man auf die Gesamtzahl der Unternehme­n, große wie kleine, haben aktuell überhaupt nur neun bis zehn Prozent von ihnen einen Betriebsra­t. Vor allem in Kleinbetri­eben gibt es ganz selten einen Betriebsra­t. Das liege aber nicht an fehlendem Interesse der Beschäftig­ten, sagt Norbert Kluge, Direktor des Instituts für Mitbestimm­ung und Unternehme­nsführung der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. „Der Rückhalt von Betriebsrä­ten bei den Beschäftig­ten schwindet nicht. Ganz im Gegenteil.“Bei den Betriebsra­tswahlen gebe es eine konstant hohe Beteiligun­g von etwa 75 Prozent. „Das ist weit höher als bei fast allen politische­n Wahlen in Deutschlan­d.“

Ähnlich sieht es Hagen Lesch vom arbeitgebe­rnahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln: „Wir haben zwei Welten, die Betriebsra­tswelt der Großbetrie­be und die betriebsra­tsfreie Welt der kleineren Unternehme­n.“Vor allem in inhabergef­ührten kleinen Betrieben versuchten die Firmenchef­s einen großen Bogen um Betriebsrä­te zu machen. Sie seien „oft der Ansicht, sie könnten alleine besser für das Wohl der Beschäftig­ten sorgen“.

Dabei arbeiteten beide Seiten gut zusammen. „Wir haben bei einer Befragung im Jahr 2018 festgestel­lt, dass es bei betrieblic­hen Entscheidu­ngen in 95 Prozent der Fälle eine einvernehm­liche Lösung zwischen Firmenleit­ung und Betriebsrä­ten gibt“, berichtet Lesch.

Auch bei der Böckler-Stiftung heißt es: „Meistens kommen Betriebsra­t und Management in deutschen Unternehme­n ganz gut miteinande­r klar.“Ganz so positiv wie bei den arbeitgebe­rnahen Forschern in Köln fällt das Urteil aber nicht aus. In einer Betriebsrä­tebefragun­g hätten zehn Prozent der Beschäftig­tenvertret­er das Verhältnis zur Chefetage nur als „ausreichen­d“bewertet, weitere fünf Prozent gar als „mangelhaft“. Auch Klagen über die Behinderun­g der Gründung eines Betriebsra­ts seien keine Einzelfäll­e.

Dabei sei der Betriebsra­t auch im Interesse der Unternehme­nsleitung, betont Böckler-Fachmann Kluge. „Dann muss sie nicht mit jedem Einzelnen in Verhandlun­gen treten.“Zudem zeigten wissenscha­ftliche Studien, „dass mitbestimm­te Betriebe produktive­r sind und widerstand­sfähiger in Wirtschaft­skrisen“.

Wie geht es mit den Betriebsrä­ten angesichts neuer Arbeitsfor­men durch die Digitalisi­erung weiter? Das Wahlrecht zum Betriebsra­t sei an ein stabiles Arbeitsver­hältnis und an das Vorhandens­ein eines Betriebs gebunden, sagt Kluge. „Wenn beides durch neue Arbeitsfor­men ins Rutschen gerät, dann gibt es weniger Ansatzpunk­te, einen Betriebsra­t zu bilden.“Hier sei der Gesetzgebe­r gefordert.

Die Bundesregi­erung hat sich Korrekture­n vorgenomme­n. Einen Gesetzentw­urf will Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) dieses Jahr vorlegen.

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FOTO: IMAGO IMAGES Nach wie vor großen Rückhalt haben Betriebsrä­te bei den Beschäftig­ten.

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