Rätsel um vergiftete Babys in Ulm
Wer hat fünf Frühchen mit Morphin vergiftet? – Panne beim Landeskriminalamt vergrößert die Sorgen bei der Ulmer Uniklinik
(lsw) - Wegen einer Panne im Landeskriminalamt ist eine Krankenschwester zu Unrecht verdächtigt worden, Babys in der Ulmer Universitätsklinik Morphium verabreicht zu haben. Nun ist klar: Das Morphium, das vermeintlich in einer Spritze mit Muttermilch im Spind der Angestellten gefunden wurde, stammt aus einem Lösungsmittel des Landeskriminalamts (LKA), das bei der Untersuchung verwendet worden war. „Die Spritze ist außen vor. Da ist kein Morphin drin“, sagte der Leiter der Ulmer Staatsanwaltschaft, Christof Lehr, am Dienstag in Ulm. Staatsanwaltschaft und Polizei gehen weiter davon aus, dass die fünf Babys durch einen kriminellen Akt in Lebensgefahr gerieten. Zum möglichen Motiv machte Lehr keine Angaben.
- Ein wahrer Medizin-Krimi erschüttert derzeit die Uniklinik Ulm. Und es ist nicht abzusehen, dass er bald endet. Fünf Frühchen waren im Dezember offenbar mit dem Schmerzmittel Morphin vergiftet worden. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein und präsentierte prompt eine mögliche Schuldige: eine Krankenschwester. Doch nun kommt heraus: Die Frau ist aufgrund einer Panne des Landeskriminalamts festgenommen worden und saß zu Unrecht in U-Haft. Jetzt ist die Unsicherheit noch größer als zuvor. Auch die Klinik muss sich kritische Fragen gefallen lassen.
Wie es sich anfühlen mag, mehrere Tage zu Unrecht im Gefängnis zu sitzen? Eine exakte Analyse der Befindlichkeit jener Kinderkrankenschwester, die am vergangenen Mittwoch in Haft genommen wurde, kann der Leitende Oberstaatsanwalt Christof Lehr zwar nicht liefern. Er habe mit der 28Jährigen nach ihrer Freilassung am Sonntag jedoch telefoniert, ihr sogar seine Nummer gegeben. Und sich entschuldigt. Die Frau sei wohlauf und habe gefasst gewirkt. Sie stünde jedoch noch unter dem Einfluss der Ereignisse der vergangenen Tage, sagt Lehr. Er wirkt selbst angespannt bei dieser zweiten Pressekonferenz binnen einer Woche zu einem Vorfall, der sich bereits kurz vor Weihnachten ereignet hat. Und der nach wie vor Rätsel aufgibt, mehr als zuvor.
Dass mit den Babys etwas Gravierendes nicht stimmen konnte, wäre sogar Laien aufgefallen in jener Nacht auf den 20. Dezember. Sie waren teils grau angelaufen. Zunächst hatten die Ärzte vermutet, dass sich die fünf Säuglinge, die sich das Zimmer teilten auf der Frühchenstation der Ulmer Kinderklinik, die zum Uniklinikum gehört, etwas eingefangen hätten; eine Infektion beispielsweise. Dass die Ursache Morphin war, welches den Babys in bis zu zehnfacher Dosis zugeführt worden war, ergab eine spätere Analyse des Urins der Kinder. Christof Lehr bleibt auch am Dienstag dabei, dass der oder die Täterin „mit hoher krimineller Energie“vorgegangen sein muss.
Viel mehr Gewissheiten kann der oberste Ermittler in diesem Fall allerdings nicht präsentieren. Im Gegenteil. Lehr muss zurückrudern und erklären, warum er die Verhaftung der Krankenschwester veranlasst hatte, die – wie sich nun herausgestellt hat – eben nicht verantwortlich gemacht werden kann für die Vergiftung der Babys mittels einer Spritze, die in ihrem Spind gefunden worden war. Die Spritze enthielt zwar Muttermilch, nicht jedoch das in diesem Fall beinahe tödlich wirkende Schmerzmittel.
Dieses gelangte offenbar erst später in die Spritze, und das ausgerechnet im Labor des Landeskriminalamtes.
Zu Lehrs Rechten sitzt Ralf Michelfelder, der Präsident des Landeskriminalamtes (LKA). Mitgebracht aus Stuttgart hat er Andrea JacobsenBauer, die Leiterin des Fachbereichs „Chemie“beim KTI, dem Kriminaltechnischen Institut des LKA. Neben ihnen hat Ulms Polizeipräsident Bernhard Weber Platz genommen und blickt in Kameras und Fotoapparate. Er bleibt von Nachfragen der Journalisten weitgehend verschont.
Morphin im Lösungsmittel
Lehr und Jacobsen-Bauer erklären, wie es zu dem falschen dringenden Tatverdacht gegen die Frau und zu ihrer Festnahme kommen konnte. Wobei sie selbst nur mutmaßen können. Ihren Erläuterungen zufolge befand sich in dem Lösungsmittel, welches beim KTI benutzt wird, um das angeblich in der Spritze befindliche Morphin von der Muttermilch zu trennen, selbst Morphin. Wie das Lösungsmittel verunreinigt werden konnte – und das ausgerechnet mit der gleichen Substanz, die bei den Ulmer Frühchen zu den lebensbedrohlichen Atemaussetzern geführt hatte –, sei nach wie vor unklar. Laut Jacobsen-Bauer reiche aber ein „Luftzug“aus im Labor, um ein Lösungsmittel zu kontaminieren.
Das zunächst positive Ergebnis – telefonisch durchgegeben aus Stuttgart – veranlasste die Ulmer Justiz, die Krankenschwester in Untersuchungshaft nehmen zu lassen. Wobei eines jedoch noch ausstand beim KTI: der obligatorische zweite Test der Muttermilch – und zwar eine nichtverunreinigte Probe. Dies ist bei einem solchen Testverfahren eigentlich Schritt eins, er wurde in Ermangelung von „reiner“Muttermilch, von der sich eine Portion in der Spritze befand, aber nach hinten verschoben. Zunächst musste noch die Frau ausfindig gemacht werden, um deren Milch es in der Spritze ging.
Dass alles so schnell gehen musste, rechtfertigte Christof Lehr mit der Abwehr weiterer Gefahren, die aus Sicht der Ermittler zum damaligen Zeitpunkt zu befürchten waren.
Als auch die zweite Muttermilchprobe aufgetrieben und analysiert war, die eigentlich gar keine Morphinspuren aufweisen durfte, weil es sich eben um die Milch direkt von der Mutter handelte – und diese dies trotzdem tat –, stand das LKA zunächst vor einem Rätsel. Es habe, so LKA-Präsident Michelfelder, alle Hebel in Bewegung gesetzt am vergangenen Wochenende, um Klarheit in die Sache zu bringen. Per Helikopter
wurden die Proben zum LKA nach München gebracht, wo Nachtschichten eingelegt worden seien. Ergebnis: Die Ulmer Muttermilch ist morphinfrei. Sowohl die „verunreinigte“in der Spritze als auch die zweite „reine“Probe der Mutter. „Da war nix drin“, so Christof Lehr.
Perfekt wird die Verwirrung durch den Hinweis der Staatsanwaltschaft, dass die Spritze die Krankenschwester trotzdem noch zu einer Verdächtigen mache. Eine solche habe schließlich „nichts zu suchen“im Spind einer Schwester. Die Milch, die sich in dieser befand, stammte aber nicht etwa von einer der Mütter der vergifteten Frühchen, sondern von einer anderen Mutter – deren Kind jedoch ebenfalls im Dezember in der Kinderklinik lag. Sogar in der fraglichem Nacht – jedoch in einem anderen Zimmer und ohne Vergiftungserscheinungen zu zeigen.
Das LKA zog aus den Untersuchungen den Schluss: Wenn der Test in Bayern eindeutig negativ ausfällt, muss der Fehler im eigenen Haus liegen. Die verdächtigte Frau wurde auf freien Fuß gesetzt. Wer nun schuld an der Vergiftung der Frühchen ist, das ist die große Frage. Nachdem sich die erste heiße Spur als falsch herausgestellt hat, scheint zunächst keine weitere in Sicht. Für die Ermittler heißt es: Alles auf Anfang. Wobei sich auch die Uniklinik die Frage stellen lassen muss, ob sie sich früh genug an die Staatsanwaltschaft gewandt hat.
Angestellte der Klinik freigestellt
Ermittler Christof Lehr äußert sich am Dienstag ausweichend, als er gefragt wird, ob seit dem Vorfall am 20. Dezember bis zum Einschalten der Staatsanwaltschaft ziemlich genau einen Monat später zu viel Zeit vergangen sei. Er nimmt die Klinik in Schutz. Medizinische Notfälle gehörten dort schließlich zur Tagesordnung. Und als klar war, dass hinter der Vergiftung Morphin stecken muss, habe die Klinik umgehend gehandelt.
Auch der Leiter der Kinderklinik, Professor Klaus-Michael Debatin, hatte sich im Zuge der ersten Pressekonferenz vergangene Woche – als die vermeintlich Schuldige präsentiert wurde – erleichtert gezeigt und davon gesprochen, dass man davon ausgehen müsse, dass an der Klinik mit „krimineller Energie“ein „Verbrechen“verübt worden sei. Am Dienstag wollte sich die Klinik nicht äußern zum neuesten Stand der Ermittlungen. Lange allerdings wurde hinter verschlossenen Türen beraten. Aus dem Schneider ist die verhaftete
Krankenschwester nicht. Sie gehöre weiter zum Kreis der Verdächtigen, so Christof Lehr. Genauso wie die anderen fünf Angestellten der Klinik, drei weitere Schwestern, zwei Ärzte. Sie sind nach wie vor freigestellt. Einen konkreten Vorwurf kann ihnen die Staatsanwaltschaft nicht machen, jedoch: Sie waren es eben, die die Aufsicht hatten während der Nachtschicht, als das Morphin in die Babykörper wanderte.
Wie es dort hineinkam?
Das kann derzeit niemand sagen. Es ist nicht einmal klar, ob es sich bei dem Gift um Morphin aus Krankenhausbeständen gehandelt hat. Oder wurde es gar eingeschleust?
Die Verunsicherung bei den Mitarbeitern und der Leitung der Klinik – mit 6000 Mitarbeitern größter Arbeitgeber in Ulm – ist groß. Der Leitende Ärztliche Direktor Udo X. Kaisers hatte davon gesprochen, der Vorfall sei geeignet, das Vertrauen in das Uniklinikum zu erschüttern. Das war, als immerhin festzustehen schien: Die Schuldige ist gefunden. Und die Hoffnung bestand, bald wieder zur Tagesordnung übergehen zu können.
Der Frau, die ihre Unschuld beteuert, steht jetzt zumindest eines zu: Entschädigung für die vier Tage, die sie in U-Haft saß. Aber nur, wenn sich herausstellt, dass sie tatsächlich nichts zu tun hat mit der Vergiftung der fünf Säuglinge – denen es heute glücklicherweise gut geht. Sie sollen keine Folgeschäden davontragen.
Zu möglichen Motiven des noch unbekannten Täters will Christof Lehr am Dienstag nichts sagen. Nur so viel: „Es muss jeder Stein umgedreht werden.“