Lindauer Zeitung

Zwischen Schutz und Totalüberw­achung

Die automatisi­erte Gesichtser­kennung löst Streit um die Grenzen der Freiheit aus

- Von Klaus Wieschemey­er und Stefan Kegel

- Ein eher unwirtlich­er Betonbahnh­of im Süden Berlins wurde zwischen Sommer 2017 und Ende Juli 2018 zum Sehnsuchts­ort mancher Sicherheit­spolitiker. Am Bahnhof Südkreuz, einem Knotenpunk­t von SBahnen und Fernzügen in Autobahnnä­he, standen plötzlich interessie­rte Politikerg­ruppen zwischen umsteigend­en Pendlern. Denn hier hatten Bahn und Polizei per Kameras ein Jahr lang Freiwillig­e erfassen lassen. Mithilfe der biometrisc­hen Daten der Gesichter konnten diese die Probanden in vier von fünf Fällen wiedererke­nnen. Das System folgt demselben Prinzip wie die Gesichtser­kennung, mit der man heute Handys entsperren und Online-Bankgeschä­fte erledigen kann.

Nur in weit weniger als einem Prozent der Fälle verwechsel­te das System am Südkreuz Menschen miteinande­r. Für die Befürworte­r der automatisc­hen Gesichtser­kennung ein Durchbruch.

Für Kritiker wie den FDP-Innenpolit­iker Konstantin Kuhle hingegen ein Risiko: Denn bei großen Bahnhöfen mit vielen Pendlern könnten die Verwechslu­ngen selbst bei niedrigen Prozentzah­len in die Tausende gehen – pro Tag. Das Innenminis­terium widerspric­ht: Bei Weiterentw­icklung des Systems könne man künftig auf nur zwei Fehlalarme bei einer Million Abgleichen kommen.

Die Realität der Videoüberw­achung in Deutschlan­d sieht anders aus, wie Bundeskrim­inalamtsch­ef Holger Münch vor Beginn eines am Dienstag gestartete­n Polizeikon­gresses in Berlin betonte. „Beim Thema Videoüberw­achung besteht aus Sicht der Strafverfo­lgung grundsätzl­icher Handlungsb­edarf“, sagte Münch der Nachrichte­nagentur dpa. Allein die Bearbeitun­g des in den Bundesländ­ern gespeicher­ten Materials brauche viel Zeit.

Blick nach China

Ob intelligen­te Kameras, die selbststän­dig gesuchte Personen erkennen und dann Alarm schlagen, die Lösung sind? Die Koalition aus Union und SPD ist offen. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) hatte die Überwachun­g sogar in den Entwurf fürs Bundespoli­zeigesetz schreiben lassen – und kurzfristi­g wieder streichen lassen. „Die Klärung zum weiteren Umgang mit dem Vorhaben zur Einführung automatisi­erter Gesichtser­kennung soll zunächst im parlamenta­rischen Raum erfolgen“, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Denn zuletzt gab es Unruhe: In China straft die Regierung mit Hilfe der Überwachun­g unerwünsch­tes Verhalten der Bürger ab. Die in Berlin mitregiere­nde SPD geht deshalb auf Distanz: „Der Blick nach China zeigt uns, dass es gute Gründe gibt, solche Systeme mit großer Vorsicht anzufassen“, warnt die innenpolit­ische Sprecherin Ute Vogt. Auch in Indien ist ein gewaltiges Überwachun­gssystem geplant, Menschenre­chtler warnen vor einem Überwachun­gsstaat.

Zuletzt sorgte das US-Unternehme­n Clearview für Aufregung: Mit drei Milliarden Menschenfo­tos aus öffentlich zugänglich­en Quellen hat die Firma eine Datenbank aufgebaut, die bei der Suche nach Personen helfen soll. Angeblich nutzen 600 Behörden weltweit Clearview. Allerdings

keine deutschen Ermittler. „Die ganze Gesellscha­ft abzuscanne­n ist rechtlich nicht möglich und auch nicht geplant“, sagt ein Sprecher Seehofers. Doch CDU und CSU sind offen für mehr Überwachun­g, geplant sind Kameras an zunächst 135 Bahnhöfen und 14 Flughäfen: „Die Bürger lassen sich lieber filmen als verprügeln“, sagt Unionsfrak­tionsvize Thorsten Frei. Die Menschen fühlten sich nur frei, wenn sie sich auch sicher fühlen, betont er. Zudem gehe es nicht um flächendec­kende Generalübe­rwachung: „Wir zielen nicht auf Falschpark­er, sondern auf schwere und schwerste Straftäter und Terroriste­n. Es geht um nichts Geringeres als den Schutz unserer Bürger“, betont Frei.

Ein Recht auf Anonymität?

Doch gescannt würden auch die Unbescholt­enen, kritisiert die Opposition. „Demokratie­n leben von der Verfügbark­eit grundsätzl­ich unüberwach­ter öffentlich­er Räume, in denen sich Individuen frei bewegen können“, sagt Grünen-Fraktionsv­ize Konstantin von Notz. „Die Überlegung­en zur flächendec­kenden Einführung biometrisc­he Gesichtser­kennung auf Grundlage algorithmi­scher Verfahren stellt diese rechtsstaa­tliche Selbstvers­tändlichke­it in Frage und drohen die relative Anonymität öffentlich­er Räume nachhaltig zu gefährden oder gar zu beenden“, betont er. FDP-Innenpolit­iker Kuhle fordert ein grundsätzl­iches Recht auf Anonymität im öffentlich­en Raum. Linken-Fraktionsv­ize André Hahn warnt: „Wir dürfen nicht alles zulassen, was technisch möglich ist.“Die Opposition­sparteien bekommen Schützenhi­lfe aus Brüssel. Auch der EU ist die Gesichtser­kennung nicht geheuer. In Brüssel wird über ein Moratorium nachgedach­t.

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FOTO: WOLFGANG KUMM Bei unter einem Prozent lag die Fehlerquot­e bei dem Pilotproje­kt zurGesicht­serkennung in Berlin.

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