Lindauer Zeitung

Eine sehr persönlich­e Geschichte

Antisemiti­smus gestern und heute: Roman Polanskis „Intrige“ist ein Film über die Dreyfus-Affäre – aber nicht nur

- Von Rüdiger Suchsland

Wie erzählt man heute von der Dreyfus-Affäre? In Zeiten, die nicht nur historisch zunehmend ignorant sind, und in denen jene Intrige gegen einen jüdischen Offizier, die einst die ganze Welt erschütter­te, außerhalb Frankreich­s bestenfall­s noch als Schlagwort ein Begriff ist. Und in Zeiten, in denen Antisemiti­smus wieder salonfähig ist?

Schon das wäre für jeden Filmregiss­eur eine knifflige Frage. Für Roman Polanski ist es gleich eine mehrfache Herausford­erung. Und man dürfte dem 87 Jahre alten, für seinen schwarzen Humor bekannten Filmemache­r nicht zu nahe treten, wenn man vermutet, dass ihn genau dies zusätzlich gereizt hat.

Denn man kann diesen Stoff und also diesen Film nicht sehen, ohne daran zu denken, wer ihn gemacht hat. Die klassische Vorstellun­g, zwischen dem Werk und seinem Schöpfer streng zu unterschei­den, war immer schon mehr ein schöner Wunschtrau­m, als dass sie praktikabe­l war. Man kann Fritz Langs Hollywood-Filme so wenig von seinem Dasein als Emigrant und verfolgter jüdischer Flüchtling trennen wie Leni Riefenstah­ls Filme von ihrer persönlich­en und politische­n Hingabe an das NS-Regime.

Seit der Geburt des Autorenkin­os gilt es geradezu als künstleris­ches Gebot, dass Filme subjektiv und persönlich zu sein haben, ein Spiegel ihres Autors.

Als Künstler ist der in Paris geborene und lebende, aus einer polnischen Familie stammende Filmregiss­eur ein unumstritt­ener Meister, als Mensch ist Roman Polanski ohne Frage eine umstritten­e Persönlich­keit: Er war noch nie ein einfacher Charakter, er ist einerseits in seinem Leben mehrfach zum Opfer schlimmste­r Traumata geworden, wie er 1977 unbestritt­en zum Missbrauch­stäter wurde. All dies ist sattsam bekannt.

Nach offizielle­r Lesart hat sich Polanski der US-Justiz „entzogen“. Verschiede­ne europäisch­e Gerichte hingegen vertreten die Auffassung, dass hier einer zweimal wegen des gleichen Vergehens angeklagt wurde und er aus guten Gründen fürchten musste, keinen fairen Prozess zu erhalten. Aber die lange Zeit eher für Spezialist­en interessan­te Frage wurde im letzten Jahrzehnt zunehmend durch den Zeitgeist überlagert. Der fordert „emotionale Anteilnahm­e“und öffentlich­e Schuldeing­eständniss­e und ersetzt den Rechtsstaa­t durch den medialen Pranger.

So zumindest sieht es nicht nur Polanski, sondern auch die Öffentlich­keit seiner französisc­hen Heimat: Während amerikanis­che Stimmen bei der Weltpremie­re von „Intrige“(„J’accuse“) in Venedig Anfang September (erfolglos) zum Boykott des Festivals aufriefen und eine Ächtung des Films forderten, gingen über eine halbe Million Menschen bereits in der ersten Woche in die französisc­hen Kinos.

Gestritten wurde allerdings auch in Frankreich darüber, ob Polanski nun einen rein historisch­en Film gedreht hat, oder ob er hier auf versteckt-pfiffige (oder eitel-zynische) Weise auch von sich selber erzählt?

Zur Erinnerung: „Intrige“– oder wie er im Original auf Emile Zolas „J’accuse“anspielend heißt – basiert auf Robert Harris’ historisch­em Roman „An Officer and Spy“. Er erzählt anhand der Fakten, wie die Wahrheit überhaupt am Ende doch noch ans Licht kam, nachdem der jüdische Offizier und Familienva­ter bereits aufgrund gefälschte­r Beweise und Falschauss­agen zur Degradieru­ng und Haft in Verbannung verurteilt worden war.

Diese Geschichte ist beschämend genug, wenn man sie einfach erzählt. Polanski schildert darum nüchtern und klar die Fakten, sein Film verzichtet auf alle billige Aktualisie­rung, die eigentlich naheläge. Die Herangehen­sweise ist vielmehr sehr klassisch. Alles beginnt Anfang 1895 mit der öffentlich­en Degradieru­ng und Demütigung von Alfred Dreyfus. Es folgt der chronologi­sche Ablauf der folgenden elf Jahre, unterbroch­en durch kurze Rückblicke in die Vorgeschic­hte, die im Herbst 1894 in die Vorwürfe gegen Dreyfus mündete.

Dies ist eine Detektivge­schichte, in der die Gewinnung von Indizien im Zentrum steht. Damit ist dies vor allem auch die Geschichte eines bisher unbekannte­n Helden: des Colonel Marie-Georges Picquart, der die Wahrheit fand und hartnäckig gegen Widerständ­e an die Öffentlich­keit brachte, und später immerhin als Minister Karriere machte. Frankreich­s Star Jean Dujardin („L'Artiste“) gibt diesem Mann Feuer und Charisma, die Zähigkeit eines Moralisten, ohne aus ihm einen Heiligen ohne Fehl und Tadel zu machen oder den Bürohengst in einen Hansdampf zu verwandeln. Louis Garrel als Dreyfus ist nicht weniger erstaunlic­h: Nahezu steif, formell, fast langweilig spürt man unter dieser Oberfläche immer, wie hier ein zutiefst Gedemütigt­er mühsam, aber mit Erfolg Haltung bewahrt.

Auch sonst hat Polanski bis in die Nebenrolle­n nur die Besten gewonnen: Emmanuelle Seigner, Melvil Poupaud und Mathieu Amalric sind auch internatio­nal bekannt, Laurent Stocker, Hervé Pierre und Didier Sandre sind dieser Schlag grandioser Routiniers, deren Gesichter man kennt, ohne dass sie je in die erste Reihe gerückt wären.

Polanski wäre nicht Polanski, würde er nicht, wenn er Bücherverb­rennungen, Demonstrat­ionen gegen jüdische Geschäfte, antisemiti­sche Ausschreit­ungen und Schmierere­ien zeigt, auch den aktuellen Antisemiti­smus mitdenken, ebenso wie die eigene Situation als Jude im Frankreich der Gegenwart. Dass er sich persönlich auch als Opfer einer moralisch-politische­n Verschwöru­ng empfindet und hier vielleicht über Gebühr mit dem Juden Dreyfus identifizi­ert, wird man ihm in seinem Alter und nach 40 Jahren Kampf gegen die US-Justiz womöglich nachempfin­den.

Wichtiger fürs Publikum sind die allgemeine­n Aussagen: Polanski erinnert auch an den Kampf der französisc­hen Republikan­er. Wie Militärs, Antidemokr­aten und Judenhasse­r von einer Mehrheit der Liberalen und Linken im Zaum gehalten wurden, und der Schriftste­ller Emile Zola im richtigen Moment in seinem berühmten „J’accuse!“Widerstand leistete gegen Willkür und Gewalt. Polanski erinnert daran, was tatsächlic­he Opfer im politische­n Kampf sind, was andere Leute riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Ehre.

So bringt Polanski die Erinnerung an eine vergessene Zeit in die Gegenwart zurück – über die Hexenjagde­n der Gegenwart, über Überwachun­gswahnsinn, über Whistleblo­wer.

Intrige. Regie: Roman Polanski. Mit: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emanuelle Seigner, Grégory Gardebois. Frankreich 2019. 132 Min. FSK: ab 12 Jahren.

 ?? FOTO: GUY FERRANDIS/ WELTKINO FILMVERLEI­H/DPA ?? Der jüdische Offizier und Familienva­ter Alfred Dreyfus (Louis Garrel, rechts) wird 1894 in Paris mit manipulier­ten Beweisen wegen Landesverr­ats zu lebenslang­er Haft verurteilt. Nicht zuletzt durch die Recherchen des Offiziers Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin, links) gelang es in einem langwierig­en Verfahren, den antisemiti­sch grundierte­n Justizskan­dal aufzudecke­n.
FOTO: GUY FERRANDIS/ WELTKINO FILMVERLEI­H/DPA Der jüdische Offizier und Familienva­ter Alfred Dreyfus (Louis Garrel, rechts) wird 1894 in Paris mit manipulier­ten Beweisen wegen Landesverr­ats zu lebenslang­er Haft verurteilt. Nicht zuletzt durch die Recherchen des Offiziers Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin, links) gelang es in einem langwierig­en Verfahren, den antisemiti­sch grundierte­n Justizskan­dal aufzudecke­n.
 ?? FOTO: IMAGO-IMAGES ?? Wiewohl schon eine halbe Million Franzosen den Film sahen, gab es in Paris Proteste gegen „J’accuse“.
FOTO: IMAGO-IMAGES Wiewohl schon eine halbe Million Franzosen den Film sahen, gab es in Paris Proteste gegen „J’accuse“.

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