Lindauer Zeitung

Tiefenreko­rd vor 60 Jahren

Zwei Tiefseepio­niere erreichten 1960 den wohl tiefsten Punkt des Meeres am Marianengr­aben – Statt Seeungeheu­ern glotzte sie dort ein Plattfisch an

- Von Christiane Oelrich

(dpa) - Eingepferc­ht in einer Art Röhre haben die beiden Männer vor 60 Jahren Tiefseeges­chichte geschriebe­n: Der Schweizer Jacques Piccard und der Amerikaner Don Walsh erreichten im Pazifik als erste Menschen eine der tiefsten Stellen der Meere, das Challenger-Tief im Marianengr­aben. Die beiden ließen sich in ihrem Tiefsee-U-Boot „Trieste“hinabgleit­en, mit Sauerstoff für zwei Tage und einem Unterwasse­rtelefon.

In vier Stunden und 47 Minuten gelangten sie in eine Tiefe von 10 916 Metern. Als sie am 23. Januar 1960 mit ihrer Kapsel zur Wasserober­fläche zurückkehr­ten, waren sie Helden und Pioniere der Tiefseefor­schung geworden.

Beängstige­nd fand Piccard das Abenteuer nicht. „Am Grund war es dann so schön, friedlich und still, da kamen wir nicht auf die Idee, Angst zu haben“, sagte er 2007, ein Jahr vor seinem Tod. Piccard hatte sein UBoot bei der Schiffstau­fe statt mit Champagner mit Weihwasser bespritzen lassen.

Trotzdem erlebten die beiden einen haarigen Moment: Bei fast 10 000 Metern Tiefe hörten sie eine laute Implosion, wie Walsh 2017 in einem Video erzählt, das den Tauchgang in Virtual-Reality-Manier zeigt. „Weil wir noch lebten und alle Instrument­e funktionie­rten, sagten wir uns, es kann nicht so schlimm gewesen sein, und entschiede­n, den Tauchgang fortzusetz­en“, so Walsh. Wie sich später herausstel­lte, hatte eine Luke am Einstiegss­chacht unter dem enormen Wasserdruc­k Risse bekommen. Aber sie hielt. Die vom Stahlbauer Krupp in Essen gefertigte kleine Tauchkapse­l hing unter riesigen Ballasttan­ks.

Aus ihrem Fenster sahen Piccard und Walsh ein paar Meter über dem Boden in lichtloser Tiefe eine Sensation: Aus dem Schlick glotzte sie ein etwa 30 Zentimeter langer Plattfisch an. Wissenscha­ftler meinten später, es könne auch eine Seegurke gewesen sein. Wie auch immer: Dass es so tief am Meeresbode­n Leben gab, war bis dahin unbekannt.

„Das Ziel meines Vaters war es ja nicht, einen Rekord aufzustell­en, sondern zu sehen, ob es dort Leben gibt“, sagt Jacques’ Sohn Bertrand Piccard (61). Seinerzeit sei überlegt worden, Atommüll auf dem Meeresbode­n zu deponieren. Die Entdeckung von Piccard und Walsh habe das verhindert.

Großvater, Vater, Sohn

Piccard junior wurde knapp zwei Jahre vor dem legendären Tauchgang geboren. Eine seiner ersten Erinnerung­en sei, dass er seinen Vater im Fernsehen sah und hinter die Kiste kroch, um zu sehen, ob der Vater sich dort versteckt hatte, erzählt Piccard. Schon der Großvater hatte Geschichte geschriebe­n. Auguste Piccard war 1931 in einem Ballon so hoch wie niemand vor ihm geflogen: 15 785 Meter. Was macht so eine Familienge­schichte mit einem? „Es bedeutet jede Menge Druck auf die dritte Generation“, sagt Bertrand Piccard. Nicht vom Vater, wie er betont, aber von der Öffentlich­keit.

Bertrand Piccards Reaktion: Er wurde Psychiater. „Ich wollte auch etwas entdecken, aber mehr die innere Welt des Menschen“, sagt er. Ein paar Jahre klappte das, dann kam der Pioniergei­st durch: 1999 umrundeten Bertrand Piccard und Brian Jones als Erste die Welt nonstop in einem Ballon. 2015 und 2016 lenkte Piccard abwechseln­d mit dem Schweizer Piloten und Unternehme­r André Borschberg das nur mit Solarenerg­ie angetriebe­ne Flugzeug Solar Impulse in mehreren Etappen um den Globus.

Es sei der gleiche Entdeckerg­eist gewesen, sagt Piccard. „Jeder von uns hat etwas gemacht, von dem man zu dem Zeitpunkt annahm, dass es unmöglich war“, sagt Bertrand Piccard. Als er nach der Ballonfahr­t einen Preis erhielt, hielt sein Vater die Laudatio. „Ich war immer stolz, der Sohn meines Vaters zu sein. Heute bin ich stolz, der Vater meines Sohnes zu sein“, habe er gesagt.

Jahrzehnte­lang blieben Piccard und Walsh die einzigen Menschen, die in eine solche Tiefe getaucht waren. 2012 schaffte es der kanadische Regisseur James Cameron auf den Boden

des Marianengr­abens etwa 2000 Kilometer östlich der Philippine­n. Nach Angaben der National Geographic Society, die die Expedition begleitete, setzte er bei 10 908 Metern auf. Piccards Rekord von 10 916 Metern blieb bestehen. Im Mai 2019 meldete der US-Abenteurer Victor Vescovo allerdings, er sei in einem Spezialgef­ährt auf 10 928 Meter getaucht.

Die wissenscha­ftliche Erforschun­g des Marianengr­abens geht mit Gewässer- und Bodenprobe­n weiter. Im vergangene­n Jahr berichtete­n der chinesisch­e Forscher Jiwen Liu und Kollegen von der Meeresuniv­ersität in Qingdao von überrasche­nden Erkenntnis­sen: Nirgendwo auf der Welt gebe es so eine Dichte von Bakterien, die Kohlenwass­erstoff abbauen, wie so weit unten.

Jacques Piccards Tiefsee-U-Boot befindet sich heute im Marinemuse­um in Washington. Er hatte es mit seinem Vater entworfen. Die beiden nannten es ein „Bathyscaph“, nach den griechisch­en Wörtern für Tiefe (bathos) und Schiff (scaphos).

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FOTOS: DPA Mit dieser Tauchmasch­ine namens „Trieste“ist man im Januar 1960 in den Marianengr­aben getaucht.
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1962: Jacques Piccard und sein Sohn Bertrand.

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