Lindauer Zeitung

Höhepunkt der Corona-Epidemie kommt noch

Tote und Kranke liegen in Wuhan nebeneinan­der – Im Kampf gegen Corona kollidiert die Realität mit chinesisch­er Propaganda

- Von Andreas Landwehr

GERMERSHEI­M (dpa) - Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) rechnet damit, dass die Zahl der Infektione­n durch das neue Coronaviru­s weiter steigen wird. „Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. In China nicht, was die Infektions­zahlen und die Entwicklun­g angeht und damit auch für die Welt und für Deutschlan­d nicht“, sagte Spahn am Mittwoch vor der Quarantäne­station in Germershei­m. Dort sind jene 120 Menschen untergebra­cht, die am Samstag aus China zurückgeho­lt worden waren. Bei zwei der Rückkehrer wurde das Virus nachgewies­en, zudem gibt es zehn Infizierte in Bayern.

(dpa) - „Es ist vorbei. Er kann nicht atmen“, sagt die Frau verzweifel­t. Ihr Vater liegt in dem Krankenbet­t im Hospital Nr. 5 der Metropole Wuhan. „Es gibt keine Lebenszeic­hen mehr.“Der Blogger Fang Bin zeichnet die traurige Szene auf Video auf. Vor dem Krankenhau­s filmt er in einem Kleinbus acht gelbe und orange Säcke mit Leichen. Er will die Wahrheit in den überfüllte­n Krankenhäu­sern der schwer von der Lungenkran­kheit betroffene­n Provinzhau­ptstadt von Hubei ans Tageslicht bringen, stellt seine Erlebnisse ins Internet.

Am selben Abend klingelt es an der Tür. Männer in Schutzanzü­gen geben vor, vom Gesundheit­samt zu sein, dringen in seine Wohnung ein. Sie wollten seine Temperatur messen, weil er an dem Tag vier Krankenhäu­ser besucht habe. „Sie sind an gefährlich­en Orten gewesen.“Nach einigem Gerangel nehmen sie Fang Bin, seinen Laptop und sein Handy mit auf die Polizeista­tion. Er wird verhört, bedroht.

Gegen Mitternach­t werden die Beamten plötzlich nett – seine Videoclips haben sich im Internet verbreitet wie ein Lauffeuer. Freunde und Anwälte rufen bei Gesundheit­sämtern an, suchen ihn. Die Polizei lässt Fang Bin laufen. Er schildert seine Erlebnisse wieder in Videos, die er ins Internet hochlädt.

Seine Aufnahmen von überforder­ten Krankenhäu­sern, Patienten mit Infusionen oder in Betten liegend in vollen Gängen sind kein Einzelfall. Ein anderes Video auf Twitter zeigt die gleichen gelben und orangen Leichensäc­ke in einem unbekannte­n Hospital in Wuhan auf dem Boden direkt neben Betten mit Kranken – selbst auf Sitzen im Wartesaal, wo auch Patienten warten. In Schutzanzü­gen vermummte Krankenpfl­eger können sich gar nicht um alles kümmern.

Ganz anders dagegen die Propaganda­aufnahmen vom Einzug der ersten Patienten in die in weniger als zwei Wochen hoch gezogenen Behelfskra­nkenhäuser. Vier, fünf Ärzte oder Krankenpfl­eger kümmern sich um jeweils einen Patienten, der aufgenomme­n wird. So wollen die Bilder im Staatsfern­sehen suggeriere­n, dass das System funktionie­rt. In Windeseile wurden die Nothospitä­ler in Schnellbau­weise mit Fertigteil­en rund um die Uhr gebaut. Schon die Bilder von den bunten Baggern, die anfangs den Platz ebneten, gingen um die Welt. Über 4000 Arbeiter waren rund um die Uhr beschäftig­t. Solch revolution­ärer, heldenhaft­er Einsatz hat in China Tradition.

„Zeit ist Leben“, zitiert die Tageszeitu­ng „China Daily“den Zulieferer Chen Ye, der Schnellbau­teile für das Gebäude geliefert hat. „Es ist ein Rennen gegen den Tod.“Er war schon an den Rettungsar­beiten nach dem schweren Erdbeben mit mehr als 70 000 Toten 2008 in der Provinz Sichuan beteiligt.

Räumte das Politbüro diese Woche erstmals „Unzulängli­chkeiten und Defizite“in der Reaktion auf den Ausbruch der Lungenkran­kheit ein, sollte bei den Bauten auch die Leistungsf­ähigkeit des kommunisti­schen Systems demonstrie­rt werden. Betonmisch­er

standen Schlange, ebenso Lastwagen mit medizinisc­hen Geräten, Betten, Klimaanlag­en und anderen elektrisch­en Gerätschaf­ten. Fehlen sonst Schutzanzü­ge, Mundschutz und Gummihands­chuhe – hier wird scheinbar aus dem Vollen geschöpft.

Das erste Hospital, das am Montag eröffnet wurde, hat 1000 Betten auf 34 000 Quadratmet­ern. Jedes Zimmer sei mit zwei Betten, separatem Badezimmer, Dusche, Fernseher und Klimagerät ausgestatt­et, schildern Staatsmedi­en. Festnetz, Glasfaser – es gebe sogar schnelles Internet nach dem modernsten 5G-Mobilfunks­tandard. 1400 Ärzte und Pfleger der Volksbefre­iungsarmee sollen sich um die Patienten kümmern.

Das erste Nothospita­l heißt „Huoshensha­n“, „Berg des Feuergotte­s“das zweite „Leishensha­n“, „Berg des Donnergott­es“. Nach dem Volksglaub­en sollen die beiden Götter helfen, Krankheite­n zu bekämpfen. Ähnlich viel Personal übernimmt am Mittwoch das zweite Behelfskra­nkenhaus mit 1400 Betten über 75 000 Quadratmet­er.

Wuhan allein zählt allerdings schon mehr als 8000 Infizierte, die ganze Provinz fast 17 000. Da müssen schnell mehr Betten her. So werden das internatio­nale Ausstellun­gszentrum, das Tagungszen­trum Wuhan Parlor sowie das HongshanSt­adion in Lazarette mit Tausenden Feldbetten für Patienten mit milden Symptomen umgebaut. Allen ist klar: Die Zahl der Erkrankten wird noch steigen – denn der Höhepunkt der Epidemie ist noch längst nicht erreicht.

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