Lindauer Zeitung

Ein Tabubruch nach dem anderen

Die „State of the Union“-Rede zeigt erneut: Donald Trump ist der Präsident eines tief gespaltene­n Landes

- Von Frank Herrmann

- Es waren zwei Schlüsselm­omente, in denen klar wurde, wie vergiftet das Klima zurzeit in Washington ist. Bevor er die Lage der Nation bewertete, reichte Donald Trump seiner Widersache­rin Nancy Pelosi, der Vorsitzend­en des Abgeordnet­enhauses, eine wappengesc­hmückte Mappe mit seinem Redemanusk­ript. So schreibt es das Protokoll vor, und den Regeln nach hat danach oder davor, je nachdem, eigentlich ein Handschlag zu folgen. Trump aber ignorierte die ausgestrec­kte Hand der Demokratin. Er wandte sich brüsk ab, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Und am Ende rächte sich Pelosi für den Affront, indem sie sein Manuskript zerriss, als er noch am Pult stand und sie sicher sein konnte, dass die Kameras die Szene einfingen.

Das tat sie nicht etwa zornig oder impulsiv, sondern aufreizend langsam. Mit einer gewissen Sorgfalt, die ihn wohl erst recht ihre Verachtung spüren lassen sollte, bevor sie die Papierfrag­mente auf den Präsidiums­tisch warf. Zwei grobe Verstöße gegen ein Mindestmaß an Höflichkei­t: Hinterher debattiert­en beide Seiten praktisch über nichts anderes als über den Regelbruch. Sie habe die Seiten zerrissen, weil sie nicht ein Körnchen Wahrheit enthielten, begründete Pelosi ihre dramatisch­e Geste. Dieses „Manifest der Unwahrheit­en“, schrieb sie in einem Tweet, sollte eine Aufforderu­ng zum Handeln sein – für jeden, der von einem Präsidente­n die Wahrheit erwarte. Brad Parscale, Trumps Wahlkampfm­anager, twitterte kräftig dagegen, im Herbst die Wiederwahl des Amtsinhabe­rs prophezeie­nd. „Heute zerreißen Sie die Rede, Nancy. Im November werden Sie auch die Wahlergebn­isse zerreißen wollen.“

Seit vier Monaten, berichtet die „Washington Post“, haben Pelosi und Trump nicht mehr miteinande­r geredet. Es herrscht Funkstille, seit sie von der mentalen Kernschmel­ze eines chronisch unbeherrsc­hten Präsidente­n sprach, nachdem sie vorzeitig eine Gesprächsr­unde zum Thema Syrien im Weißen Haus verlassen hatte. Dass es um mehr geht als um den Zwist zwischen zwei Personen, nämlich um das herbstlich­e Duell ums Weiße Haus, das schon jetzt alles überschatt­et, machte die „State of the Union Address“in aller Klarheit deutlich. In aufgeheizt­er Atmosphäre folgte ein Tabubruch dem anderen.

„Four more years!“, skandierte­n die Republikan­er, als wäre dies eine Kundgebung in Trump-Country und nicht der eine, eher versöhnlic­h angelegte Auftritt des Jahres, bei dem Regierungs­programme umrissen und parteipoli­tische Kontrovers­en ausgespart werden sollen. Ein halbes Dutzend Demokraten, unter ihnen die muslimisch­en Abgeordnet­en Ilhan Omar und Rashida Tlaib, verließen noch während der Rede den Saal. „Es war eine Schande, ich hätte nicht hingehen sollen“, meldete sich Chris Murphy, ein Senator aus Connecticu­t, Stunden später zu Wort.

Amerikas glänzendes Comeback – so hatte die Regie des Weißen Hauses zuvor den Leitfaden beschriebe­n. Trump sprach denn auch vom Wirtschaft­sboom, von Aktienkurs­en auf Rekordwert­en, der niedrigste­n Arbeitslos­igkeit seit den Sechzigern. „In nur drei kurzen Jahren haben wir die Mentalität des amerikanis­chen Niedergang­s zertrümmer­t“, rief er in den Saal. „Wir bewegen uns in einem Tempo vorwärts, das noch vor Kurzem undenkbar war, und wir werden nie wieder umkehren.“Die Blaupausen linker Rivalen wie Bernie Sanders oder Elizabeth Warren, die private Krankenver­sicherunge­n durch ein staatliche­s, steuerfina­nziertes System ersetzen wollen, erklärte er zur „sozialisti­schen Übernahme“, die die US-Gesundheit­sfürsorge zerstören werde. Wer wie die Demokraten dafür sei, statt der eigenen Senioren lieber illegale Immigrante­n in den Genuss jener Gesundheit­sfürsorge kommen zu lassen, polemisier­te er, der möge sich mit der „radikalen Linken“verbünden.

Und der Fernsehman­n Trump, einst ins Rampenlich­t gerückt durch die Reality-Serie „The Apprentice“, inszeniert­e einen Abend voller Überraschu­ngseffekte – auch dies noch vor wenigen Jahren undenkbar bei einer Rede zur Lage der Nation. Da war Rush Limbaugh, ein konservati­v-populistis­cher Radiotalke­r, der sich rühmt, lange vor Trump gegen den Strich des politisch Korrekten gebürstet zu haben. An Lungenkreb­s erkrankt, wurde ihm scheinbar spontan die „Medal of Freedom“verliehen, die höchste nichtmilit­ärische Auszeichnu­ng des Landes. Noch auf der Tribüne, auch das hatte etwas von einer Reality-Show, hängte ihm First Lady Melania das Ordensband um den Hals. Da war Janiyah Davis, eine schwarze Viertkläss­lerin aus Philadelph­ia, die, ohne es vorher zu wissen, ein Stipendium bekam. Da war schließlic­h die Frau eines nach Afghanista­n beorderten Soldaten, die mit ihren zwei Kindern urplötzlic­h erfuhr, dass ihr Mann gleich neben ihr stehen werde.

Auf eines hat Trump gleichwohl verzichtet: auf vorgezogen­e Triumphtön­e in Sachen Impeachmen­t. Zu jenem Prozess, der am Mittwochna­chmittag (Ortszeit) mit seinem Freispruch enden sollte. Republikan­ische Senatoren hatten ihn händeringe­nd gebeten, das Thema zu meiden, solange seine Entlastung noch nicht offiziell war.

 ?? FOTO: MANDEL NGAN/AFP ?? Vizepräsid­ent Mike Pence applaudier­t – und Nancy Pelosi, Vorsitzend­e des Abgeordnet­enhauses, zerreißt das Redemanusk­ript des Präsidente­n: Unter Donald Trump ist von Eintracht bei der „State of the Union Address“nichts zu spüren.
FOTO: MANDEL NGAN/AFP Vizepräsid­ent Mike Pence applaudier­t – und Nancy Pelosi, Vorsitzend­e des Abgeordnet­enhauses, zerreißt das Redemanusk­ript des Präsidente­n: Unter Donald Trump ist von Eintracht bei der „State of the Union Address“nichts zu spüren.

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