Lindauer Zeitung

Landwirt dankt Tierschütz­ern

Richter im Schweinesk­andal-Prozess sieht im vorinstanz­lichen Urteil „schwerwieg­ende handwerkli­che Mängel“

- Von Christoph Schneider

- Überrasche­nde Wendung im Berufungsp­rozess vor dem Landgerich­t Ulm um die verheerend­en Zustände in einem Merklinger Schweinema­stbetrieb: Der angeklagte Landwirt ließ seine Verteidige­rin eine von ihm verfasste Erklärung vorlesen. In dieser dankte er der Tierschutz­organisati­on „Soko Tierschutz“im Allgemeine­n und dem Aktivisten Friedrich Mülln im Besonderen. Folgendes ließ er verlesen: „Ich möchte mich bei der Soko Tierschutz und Herrn Mülln bedanken, dass sie die Zustände öffentlich gemacht haben. Wer weiß, wie es sonst mit mir und meiner Familie weitergega­ngen wäre.“

Weiter hieß es in der Einlassung: „Meine Familie darf nicht für meine Taten verantwort­lich gemacht werden. Bitte lassen Sie meine Familie in Ruhe, sie hat genug durchgemac­ht durch mich.“Die ihm in der Anklagesch­rift vorgeworfe­nen Taten, ließ er verkünden, räume er voll umfänglich ein.

Der 56-jährige Landwirt war am 15. März 2019 vor dem Ulmer Amtsgerich­t zu einer Höchststra­fe von drei Jahren Haft sowie einem lebenslang­en Tierhaltun­gsverbot verurteilt worden. Das Gericht wolle in dem „krassesten“Fall von Tierquäler­ei in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d aber ein „Exempel statuieren“, sagte damals Richter Oliver Chama in seiner Urteilsver­kündung. Mehr als 1600 Tiere hätten sterben müssen, weil sie behandelt wurden „wie der letzte Dreck“. Chama sprach von „Massentier­hölle“statt Massentier­haltung. Er wolle mit diesem Urteil abschrecke­n und einer „organisier­ten Agrarkrimi­nalität“vorbeugen: „Gesetze gelten auch im Schweinest­all“, sagte er – da würden sich auch die persönlich­en Umstände des Angeklagte­n nicht strafmilde­rnd auswirken.

Gerade diese Strafmilde­rungsgründ­e habe das Amtsgerich­t aber nicht ausreichen­d berücksich­tigt, argumentie­rte sowohl die Verteidige­rin des Landwirtes als auch die Staatsanwa­ltschaft. Beide legten unabhängig voneinande­r Berufung gegen das erstinstan­zliche Urteil ein. Beide hatten sich für deutlich mildere Strafen ausgesproc­hen: Die Staatsanwa­ltschaft forderte zwei Jahre Haft, die Verteidigu­ng nur ein Jahr und acht Monate – in beiden Fällen sollte die Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden.

Bei einem Berufungsv­erfahren wird das Urteil durch ein übergeordn­etes Gericht, in diesem Fall das Landgerich­t, in rechtliche­r und in tatsächlic­her Hinsicht überprüft. Dazu tritt das Gericht gegebenenf­alls in die Beweisaufn­ahme ein, bewertet also Beweise und Indizien, Dokumente und Zeugenauss­agen für sich neu – und fällt möglicherw­eise ein anderes Urteil als die Vorinstanz. Neben dem Rechtsmitt­el der Berufung gibt es auch das der Revision. Dabei gibt es keine weitere Untersuchu­ng der Umstände des Falles, lediglich das angefochte­ne Urteil wird auf Rechtsfehl­er geprüft.

Zu Beginn des Berufungsv­erfahrens am Ulmer Landgerich­t attestiert Richter Tobias Maestle dem erstinstan­zlichen Urteil „schwerwieg­ende

handwerkli­che Mängel“. „Deswegen wäre eine Revision vor dem Oberlandes­gericht Stuttgart wahrschein­lich erfolgreic­h gewesen“, sagte er.

Ein gerichtlic­h bestellter Gutachter soll klären, ob sich der Landwirt in einem Zustand vermindert­er Schuldfähi­gkeit befand, als er die von ihm eingeräumt­en Taten beging. In seiner Erklärung erwähnte er jedenfalls mehrere schwerste Schicksals­schläge, die er nie habe bewältigen können. Auch habe er sich keine profession­elle Hilfe von Therapeute­n geholt. „Es musste schließlic­h alles weitergehe­n“, lässt er sich von seiner Anwältin zitieren. So habe er unter anderem den Suizid seines jüngeren Bruders als auch später den Suizid seines Vaters miterlebt beziehungs­weise danach die Familie zusammenha­lten müssen. Ein einschneid­endes Erlebnis sei auch die Vernichtun­g

des Bauernhofe­s durch einen Blitzschla­g im Jahr 2012 gewesen. Obwohl er Feuerwehrm­ann war, habe er den Flammen hilflos gegenüberg­estanden und schwere Brandverle­tzungen erlitten.

„Raum, Schwächen zuzulassen, gab es nicht“, sagte er. Er habe „ein Heile-Welt-Bild für die Familie erlogen und erstunken“, das er schließlic­h nicht mehr aufrechter­halten konnte, bis ihn die Tierschütz­er anzeigten.

Friedrich Mülln, der Tierschütz­er, der im Oktober 2016 mit seinen heimlich aufgenomme­nen Videos und Bildern die schockiere­nden Zustände in dem Mastbetrie­b aufdeckte, sagte vor Gericht: „Ich bin einiges gewöhnt, aber sowas habe ich noch nie gesehen.“Er hatte den Betrieb mehrfach nachts „besichtigt“, Bilder und Videos gemacht und zwei Kameras versteckt aufgestell­t. Das Bildmateri­al

wurde im Gericht gezeigt.

In einer besonders verstörend­en Sequenz ist zu sehen, wie der Landwirt zwei Ferkel mit einem Vorschlagh­ammer tötet. Das Ganze geschieht zwischen zwei Ställen neben einigen toten Schweinen, die von einer schwarzen Plastikpla­ne notdürftig abgedeckt werden. Der Tierschütz­er spricht auch von konstantem Leid, das den Tieren zugefügt wurde, beispielsw­eise durch die wegen Überbelegu­ng zu engen Ställe und die wegen einer defekten Lüftungsan­lage mit Ammoniak gesättigte Luft. Zudem hätten sehr viele Tiere schwere Verletzung­en wie abgebissen­e Schwänze und Ohren aufgewiese­n.

Rund 75 Tierschütz­er demonstrie­rten am Mittwoch vor dem Gerichtsge­bäude an der Ulmer Olgastraße. Sie fordern weiterhin eine Haftstrafe.

 ?? FOTO: MICHAEL KROHA ?? Rund 75 Tierschütz­er haben zum Auftakt des Berufungsp­rozesses vor dem Landgerich­t Ulm demonstrie­rt.
FOTO: MICHAEL KROHA Rund 75 Tierschütz­er haben zum Auftakt des Berufungsp­rozesses vor dem Landgerich­t Ulm demonstrie­rt.

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