Sontheimer Täter erneut verurteilt
Vor 50 Jahren starben in München sieben Menschen in einem jüdischen Altenheim – Die Hintergründe der antisemitischen Tat sind bis heute ungeklärt
(dpa) - Im Verfahren um drei Morde in Sontheim an der Brenz ist der Hauptangeklagte neben einer lebenslangen Haftstrafe zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden. Das Landgericht Ellwangen sah am Dienstag Totschlag als erwiesen an. Der beschuldigte 55 Jahre alte Vater einer in Deutschland lebenden italienischen Familie habe 2008 seinen türkischen Schwiegersohn mit einer Schlinge erstickt. Das Gericht ordnete erneut Sicherungsverwahrung an.
G– David Jakubowiczs Koffer sind an diesem 13. Februar 1970 schon gepackt. Der einstige Gastwirt aus Tschenstochau hat die Vernichtungslager der Nazis überlebt, ist nach dem Krieg in München gelandet und lebt dort seit elf Jahren im Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde. Nun will Jakubowicz zu seiner Schwester nach Israel fliegen und Deutschland verlassen. Für immer.
Ursprünglich sollte der 59-Jährige schon an diesem Freitag ins Flugzeug steigen – daher die gepackten Koffer. Doch wegen des Schabbats hat er seine Ausreise kurzfristig um zwei Tage verschoben. Zwei Tage, die ihn das Leben kosten werden. Denn am Abend des 13. Februars 1970 – morgen vor 50 Jahren – bricht zwischen 20.45 und 20.55 Uhr ein Feuer in dem jüdischen Gemeindezentrum in der Münchner Reichenbachstraße 27 aus. Zu diesem Zeitpunkt halten sich etwa 50 Personen in dem Gebäude auf, das neben dem Altenheim auch Büros, einen Kindergarten und ein koscheres Restaurant beheimatet.
Im Hinterhof, nur einen Steinwurf entfernt, befindet sich die einzig verbliebene Synagoge der Stadt, wo an diesem Abend ein Gottesdienst gefeiert wird. Währenddessen – so werden es die Ermittler später rekonstruieren – dringt ein bis heute unbekannter Täter mit einem 20-Liter-Kanister Benzin ins Gemeindezentrum ein. Mit dem Fahrstuhl gelangt er ins oberste Stockwerk, versperrt dort die Aufzugtür, um den Fluchtweg abzuschneiden, und verschüttet die Flüssigkeit auf seinem Weg ins Erdgeschoss im Treppenhaus. Unten angekommen entzündet er das Benzin und flieht.
Binnen Minuten wird das Treppenhaus zur tödlichen Falle: Wegen des gefürchteten Kamineffekts, so nennen das Brandexperten, breitet sich das Feuer in rasender Geschwindigkeit aus. In den oberen Stockwerken – dort, wo sich das Altenheim befindet
„Brechen Sie endlich Ihr Schweigen!“
Christian Springer appelliert an Mitwisser und Mittäter, zur Aufklärung der Tat beizutragen
– sind die Bewohner von einem Flammeninferno eingeschlossen. Weiter unten schaffen es viele Menschen, sich aus dem Gebäude ins Freie zu retten. Einer von ihnen wird später von einer Frauenstimme berichten, die von oben geschrien habe: „Hilfe! Wir werden vergast, wir werden verbrannt!“
Sieben jüdische Heimbewohner kommen bei dem Anschlag ums Leben – sechs sterben in den Flammen, einer beim Sturz aus dem Fenster. Alle Todesopfer haben den Holocaust überlebt; zwei von ihnen – neben David Jakubowicz auch Eljakim Georg Pfau – erlitten die Nazilager. Bis heute ist der Brandanschlag auf das Gemeindezentrum das tödlichste Verbrechen gegen in Deutschland lebende Juden in der Geschichte der Bundesrepublik. Und dennoch ist diese mörderische Tat beinahe vergessen worden.
„Ich verstehe auch nicht, wie es dazu kommen konnte“, sagt Marian Offman, wenn man ihn in seinem Büro im Münchner Glockenbachviertel besucht – keine fünf Gehminuten vom Tatort entfernt. Der 71-Jährige ist Jude, sitzt im Stadtrat, gehört dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern an – und erinnert sich noch heute an jene schreckliche Februarnacht. „Der Anschlag war ein Einschnitt für die jüdische Gemeinde“, sagt Offman. „Die Vorstellung, dass in dem Land, in dem sechs Millionen Juden ermordet wurden, offenbar jemand gewillt ist, damit weiterzumachen, war erschütternd.“25 Jahre, also nicht mal eine Generation, nach dem Holocaust hätten damals etliche Mitglieder der jüdischen Gemeinde eine „Fortsetzung der Bedrohung“gefürchtet, so Offman.
Zumal die Tat in München Teil einer ganzen Anschlagserie war, die das jüdische Leben in Deutschland weitgehend unvorbereitet traf, sagt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Den Auftakt machte im November 1969 ein gescheiterter Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin, verübt von der linksterroristischen Gruppe Tupamaros West-Berlin um Dieter Kunzelmann. Und nur wenige Tage vor der Brandattacke in München griffen militante Palästinenser am dortigen Flughafen eine israelische Maschine der Fluggesellschaft El Al an. Ein Passagier wurde dabei getötet, als er sich auf eine Handgranate warf, um die anderen Fluggäste zu schützen.
Infolge dieser Taten wurden jüdische Einrichtungen fortan besonders gesichert; Polizeistreifen vor Synagogen und Gemeindehäusern sind seither alltäglicher Anblick. „Dabei waren jüdische Einrichtungen in Deutschland bis 1969 noch unbewacht“, sagt Michael Brenner über die Zeit vor der Anschlagsserie. Deren trauriger Höhepunkt stellte das Olympia-Attentat 1972 in München dar. Bei dieser Geiselnahme durch palästinensische Terroristen starben elf israelische Sportler und ein Polizist.
Um ihrer zu gedenken, gibt es heute im Olympiadorf eine Tafel und im Olympiapark eine Skulptur des Bildhauers Fritz Koenig, sowie seit 2017 den „Erinnerungsort OlympiaAttentat“– ein Multimedia-Pavillon mit Informationen zum Anschlag und den zwölf Opfern. In der Reichenbachstraße 27 sucht man dagegen vergeblich nach einem sichtbaren Zeichen des Gedenkens; lediglich in der einstigen Synagoge im Rückgebäude hängt eine Gedenktafel. Wer jedoch vor dem Haus steht, in dem vor 50 Jahren sieben Menschen wegen ihres Glaubens ermordet wurden, der sieht eine triste Betonfassade, Klingelschilder diverser Firmen und mehrere Warnzeichen, die auf Kameras hinweisen – sonst nichts.
Doch das soll sich ändern, versichert Anton Biebl, der Kulturreferent der Stadt München. So hat der Stadtrat im Vorjahr beschlossen, die frühere Synagoge umfassend zu sanieren und dort einen öffentlichen Ort zu schaffen, „an dem über die jüdische Geschichte informiert wird“, so Biebl. Ein Schwerpunkt werde dabei auf den „schrecklichen Ereignissen“im Februar 1970 liegen, „die lange Zeit fast völlig aus dem städtischen Gedächtnis verschwunden sind“.
Immerhin: Zum 50. Jahrestag des Brandanschlags ist noch bis Ende Februar ein Erinnerungscontainer in Sichtweite des Tatorts am Gärtnerplatz aufgebaut. Die sechs Meter lange Installation ist von einer Seite einsehbar und zeigt dort großformatige Fotos der Tatnacht sowie sieben ausgeschnittene Silhouetten zu Ehren der Opfer. Treibende Kraft hinter dem Erinnerungscontainer ist der Münchner Kabarettist Christian Springer. Er ist für sein politisches Engagement bekannt, beschäftigt sich seit Längerem mit der Tat und hat laut eigener Aussage Unmengen von Akten zu dem Fall gewälzt. Vor einem Jahr richtete Springer einen öffentlichen Aufruf an Täter oder Mitwisser, wonach diese sich melden sollen. Zwar blieb die Aktion ohne Erfolg, jedoch gibt sich der 55-Jährige überzeugt: „Der Fall wird wieder aufgenommen werden. Es ist noch nicht vorbei.“
Unmittelbar nach dem Brandanschlag nahm eine 60-köpfige Sonderkommission die Ermittlungen auf. Zunächst vermutete man Rechtsextreme oder militante Palästinenser als mögliche Täter; später rückten linksextremistische Gruppen in den Fokus – allen voran die Tupamaros München um Fritz Teufel sowie die Aktion Südfront. Für die Ergreifung des Attentäters wurde seinerzeit eine Belohnung von 100 000 Mark ausgesetzt – die bis dahin höchste Summe der bundesdeutschen Kriminalgeschichte. Zwischenzeitlich gab es auch einen 19-jährigen Hauptverdächtigen aus der ganz linken Szene. Doch letztlich hatte die Polizei keine handfesten Beweise, weshalb die Ermittlungen eingestellt wurden.
2013 kam dann noch mal Hoffnung auf, als die Bundesanwaltschaft den Fall an sich zog. Der Anlass, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, war ein Artikel im Magazin „Focus“. Dieser stützte sich auf einen anonymen Informanten und legte eine Verbindung zwischen einem Mitglied der Tupamaros München und dem Brandanschlag nahe. Doch vier Jahre später stellte die Bundesanwaltschaft ihre Ermittlungen wieder ein – ergebnislos. Zwar gebe es Indizien, „die für eine Tatbegehung aus dem linksextremistischen Bereich sprechen“, teilte die Behörde mit. „Die vorhandenen Verdachtsmomente reichen jedoch für einen konkreten Tatverdacht gegen eine bestimmte Person oder Gruppierung nicht aus.“
Christian Springer will sich damit nicht abfinden. Er wendet sich in dem zugehörigen Flyer zum Erinnerungscontainer abermals an „Mitwisser, Sympathisanten und (Mit-) täter“, die noch leben könnten. Sein Appell an sie lautet: „Brechen Sie endlich Ihr Schweigen!“
„Der Anschlag war ein Einschnitt für die jüdische Gemeinde.“
Marian Offman vom Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde München