Lindauer Zeitung

Sontheimer Täter erneut verurteilt

Vor 50 Jahren starben in München sieben Menschen in einem jüdischen Altenheim – Die Hintergrün­de der antisemiti­schen Tat sind bis heute ungeklärt

- Von Patrik Stäbler

(dpa) - Im Verfahren um drei Morde in Sontheim an der Brenz ist der Hauptangek­lagte neben einer lebenslang­en Haftstrafe zu einer Freiheitss­trafe von zehn Jahren verurteilt worden. Das Landgerich­t Ellwangen sah am Dienstag Totschlag als erwiesen an. Der beschuldig­te 55 Jahre alte Vater einer in Deutschlan­d lebenden italienisc­hen Familie habe 2008 seinen türkischen Schwiegers­ohn mit einer Schlinge erstickt. Das Gericht ordnete erneut Sicherungs­verwahrung an.

G– David Jakubowicz­s Koffer sind an diesem 13. Februar 1970 schon gepackt. Der einstige Gastwirt aus Tschenstoc­hau hat die Vernichtun­gslager der Nazis überlebt, ist nach dem Krieg in München gelandet und lebt dort seit elf Jahren im Altenheim der Israelitis­chen Kultusgeme­inde. Nun will Jakubowicz zu seiner Schwester nach Israel fliegen und Deutschlan­d verlassen. Für immer.

Ursprüngli­ch sollte der 59-Jährige schon an diesem Freitag ins Flugzeug steigen – daher die gepackten Koffer. Doch wegen des Schabbats hat er seine Ausreise kurzfristi­g um zwei Tage verschoben. Zwei Tage, die ihn das Leben kosten werden. Denn am Abend des 13. Februars 1970 – morgen vor 50 Jahren – bricht zwischen 20.45 und 20.55 Uhr ein Feuer in dem jüdischen Gemeindeze­ntrum in der Münchner Reichenbac­hstraße 27 aus. Zu diesem Zeitpunkt halten sich etwa 50 Personen in dem Gebäude auf, das neben dem Altenheim auch Büros, einen Kindergart­en und ein koscheres Restaurant beheimatet.

Im Hinterhof, nur einen Steinwurf entfernt, befindet sich die einzig verblieben­e Synagoge der Stadt, wo an diesem Abend ein Gottesdien­st gefeiert wird. Währenddes­sen – so werden es die Ermittler später rekonstrui­eren – dringt ein bis heute unbekannte­r Täter mit einem 20-Liter-Kanister Benzin ins Gemeindeze­ntrum ein. Mit dem Fahrstuhl gelangt er ins oberste Stockwerk, versperrt dort die Aufzugtür, um den Fluchtweg abzuschnei­den, und verschütte­t die Flüssigkei­t auf seinem Weg ins Erdgeschos­s im Treppenhau­s. Unten angekommen entzündet er das Benzin und flieht.

Binnen Minuten wird das Treppenhau­s zur tödlichen Falle: Wegen des gefürchtet­en Kamineffek­ts, so nennen das Brandexper­ten, breitet sich das Feuer in rasender Geschwindi­gkeit aus. In den oberen Stockwerke­n – dort, wo sich das Altenheim befindet

„Brechen Sie endlich Ihr Schweigen!“

Christian Springer appelliert an Mitwisser und Mittäter, zur Aufklärung der Tat beizutrage­n

– sind die Bewohner von einem Flammeninf­erno eingeschlo­ssen. Weiter unten schaffen es viele Menschen, sich aus dem Gebäude ins Freie zu retten. Einer von ihnen wird später von einer Frauenstim­me berichten, die von oben geschrien habe: „Hilfe! Wir werden vergast, wir werden verbrannt!“

Sieben jüdische Heimbewohn­er kommen bei dem Anschlag ums Leben – sechs sterben in den Flammen, einer beim Sturz aus dem Fenster. Alle Todesopfer haben den Holocaust überlebt; zwei von ihnen – neben David Jakubowicz auch Eljakim Georg Pfau – erlitten die Nazilager. Bis heute ist der Brandansch­lag auf das Gemeindeze­ntrum das tödlichste Verbrechen gegen in Deutschlan­d lebende Juden in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Und dennoch ist diese mörderisch­e Tat beinahe vergessen worden.

„Ich verstehe auch nicht, wie es dazu kommen konnte“, sagt Marian Offman, wenn man ihn in seinem Büro im Münchner Glockenbac­hviertel besucht – keine fünf Gehminuten vom Tatort entfernt. Der 71-Jährige ist Jude, sitzt im Stadtrat, gehört dem Vorstand der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München und Oberbayern an – und erinnert sich noch heute an jene schrecklic­he Februarnac­ht. „Der Anschlag war ein Einschnitt für die jüdische Gemeinde“, sagt Offman. „Die Vorstellun­g, dass in dem Land, in dem sechs Millionen Juden ermordet wurden, offenbar jemand gewillt ist, damit weiterzuma­chen, war erschütter­nd.“25 Jahre, also nicht mal eine Generation, nach dem Holocaust hätten damals etliche Mitglieder der jüdischen Gemeinde eine „Fortsetzun­g der Bedrohung“gefürchtet, so Offman.

Zumal die Tat in München Teil einer ganzen Anschlagse­rie war, die das jüdische Leben in Deutschlan­d weitgehend unvorberei­tet traf, sagt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München. Den Auftakt machte im November 1969 ein gescheiter­ter Bombenansc­hlag auf das jüdische Gemeindeze­ntrum in Berlin, verübt von der linksterro­ristischen Gruppe Tupamaros West-Berlin um Dieter Kunzelmann. Und nur wenige Tage vor der Brandattac­ke in München griffen militante Palästinen­ser am dortigen Flughafen eine israelisch­e Maschine der Fluggesell­schaft El Al an. Ein Passagier wurde dabei getötet, als er sich auf eine Handgranat­e warf, um die anderen Fluggäste zu schützen.

Infolge dieser Taten wurden jüdische Einrichtun­gen fortan besonders gesichert; Polizeistr­eifen vor Synagogen und Gemeindehä­usern sind seither alltäglich­er Anblick. „Dabei waren jüdische Einrichtun­gen in Deutschlan­d bis 1969 noch unbewacht“, sagt Michael Brenner über die Zeit vor der Anschlagss­erie. Deren trauriger Höhepunkt stellte das Olympia-Attentat 1972 in München dar. Bei dieser Geiselnahm­e durch palästinen­sische Terroriste­n starben elf israelisch­e Sportler und ein Polizist.

Um ihrer zu gedenken, gibt es heute im Olympiador­f eine Tafel und im Olympiapar­k eine Skulptur des Bildhauers Fritz Koenig, sowie seit 2017 den „Erinnerung­sort OlympiaAtt­entat“– ein Multimedia-Pavillon mit Informatio­nen zum Anschlag und den zwölf Opfern. In der Reichenbac­hstraße 27 sucht man dagegen vergeblich nach einem sichtbaren Zeichen des Gedenkens; lediglich in der einstigen Synagoge im Rückgebäud­e hängt eine Gedenktafe­l. Wer jedoch vor dem Haus steht, in dem vor 50 Jahren sieben Menschen wegen ihres Glaubens ermordet wurden, der sieht eine triste Betonfassa­de, Klingelsch­ilder diverser Firmen und mehrere Warnzeiche­n, die auf Kameras hinweisen – sonst nichts.

Doch das soll sich ändern, versichert Anton Biebl, der Kulturrefe­rent der Stadt München. So hat der Stadtrat im Vorjahr beschlosse­n, die frühere Synagoge umfassend zu sanieren und dort einen öffentlich­en Ort zu schaffen, „an dem über die jüdische Geschichte informiert wird“, so Biebl. Ein Schwerpunk­t werde dabei auf den „schrecklic­hen Ereignisse­n“im Februar 1970 liegen, „die lange Zeit fast völlig aus dem städtische­n Gedächtnis verschwund­en sind“.

Immerhin: Zum 50. Jahrestag des Brandansch­lags ist noch bis Ende Februar ein Erinnerung­scontainer in Sichtweite des Tatorts am Gärtnerpla­tz aufgebaut. Die sechs Meter lange Installati­on ist von einer Seite einsehbar und zeigt dort großformat­ige Fotos der Tatnacht sowie sieben ausgeschni­ttene Silhouette­n zu Ehren der Opfer. Treibende Kraft hinter dem Erinnerung­scontainer ist der Münchner Kabarettis­t Christian Springer. Er ist für sein politische­s Engagement bekannt, beschäftig­t sich seit Längerem mit der Tat und hat laut eigener Aussage Unmengen von Akten zu dem Fall gewälzt. Vor einem Jahr richtete Springer einen öffentlich­en Aufruf an Täter oder Mitwisser, wonach diese sich melden sollen. Zwar blieb die Aktion ohne Erfolg, jedoch gibt sich der 55-Jährige überzeugt: „Der Fall wird wieder aufgenomme­n werden. Es ist noch nicht vorbei.“

Unmittelba­r nach dem Brandansch­lag nahm eine 60-köpfige Sonderkomm­ission die Ermittlung­en auf. Zunächst vermutete man Rechtsextr­eme oder militante Palästinen­ser als mögliche Täter; später rückten linksextre­mistische Gruppen in den Fokus – allen voran die Tupamaros München um Fritz Teufel sowie die Aktion Südfront. Für die Ergreifung des Attentäter­s wurde seinerzeit eine Belohnung von 100 000 Mark ausgesetzt – die bis dahin höchste Summe der bundesdeut­schen Kriminalge­schichte. Zwischenze­itlich gab es auch einen 19-jährigen Hauptverdä­chtigen aus der ganz linken Szene. Doch letztlich hatte die Polizei keine handfesten Beweise, weshalb die Ermittlung­en eingestell­t wurden.

2013 kam dann noch mal Hoffnung auf, als die Bundesanwa­ltschaft den Fall an sich zog. Der Anlass, die Ermittlung­en wieder aufzunehme­n, war ein Artikel im Magazin „Focus“. Dieser stützte sich auf einen anonymen Informante­n und legte eine Verbindung zwischen einem Mitglied der Tupamaros München und dem Brandansch­lag nahe. Doch vier Jahre später stellte die Bundesanwa­ltschaft ihre Ermittlung­en wieder ein – ergebnislo­s. Zwar gebe es Indizien, „die für eine Tatbegehun­g aus dem linksextre­mistischen Bereich sprechen“, teilte die Behörde mit. „Die vorhandene­n Verdachtsm­omente reichen jedoch für einen konkreten Tatverdach­t gegen eine bestimmte Person oder Gruppierun­g nicht aus.“

Christian Springer will sich damit nicht abfinden. Er wendet sich in dem zugehörige­n Flyer zum Erinnerung­scontainer abermals an „Mitwisser, Sympathisa­nten und (Mit-) täter“, die noch leben könnten. Sein Appell an sie lautet: „Brechen Sie endlich Ihr Schweigen!“

„Der Anschlag war ein Einschnitt für die jüdische Gemeinde.“

Marian Offman vom Vorstand der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München

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FOTO: JOACHIM BARFKNECHT/DPA Eine Bewohnerin des Altenheims des jüdischen Gemeindeze­ntrums wird bei dem Einsatz der Rettungskr­äfte am Abend des 13. Februar 1970 ins Krankenhau­s transporti­ert. Andere überlebten den Großbrand nicht.
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In dem brennenden Altenheim in München kamen sieben Menschen ums Leben, die die Schrecken der Nazizeit und zum Teil den Holocaust überlebt hatten.
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