Überraschende Wendungen im Missbrauchsprozess
Während die Töchter zurückrudern, legt der angeklagte Vater vor dem Ravensburger Landgericht ein Teilgeständnis ab
- Der aktuelle Fall am Landgericht Ravensburg, in dem einem sechsfachen Familienvater aus einer Kreisgemeinde schwerer sexueller Missbrauch an zwei seiner damals noch minderjährigen Töchter vorgeworfen wird, nimmt am zweiten Verhandlungstag überraschende Wendungen.
Die erste Wendung hat mit den Töchtern und der Ehefrau des Angeklagten zu tun. Gegen die Mutter selbst läuft aktuell ein Strafverfahren wegen möglicherweise unterlassener Hilfeleistung. Auch der Vorwurf der Beihilfe steht im Raum, wie der Vorsitzende Richter Franz Bernhard feststellt, weil sie vom Missbrauch gewusst haben soll. Bernhard: „Das ist der Vorwurf. Ob das so war, weiß ich nicht.“Deshalb stehe ihr ein Auskunftsverweigerungsrecht zu. Auch durch die Ehe mit dem Angeklagten habe sie ein Zeugnisverweigerungsrecht.
Doch noch bevor der Richter die Zeugin über ihre Rechte aufklären kann, lehnt diese jede Aussage ab.
Auch die Töchter möchten sich nicht äußern. Bei deren Aussagen beziehungsweise „Nicht-Aussagen“entsteht rasch der Eindruck, dass sie am liebsten alles rückgängig machen wollen. Allesamt lehnen sie vor Gericht die Aussage ab – um hinterherzuschieben, wie leid ihnen der Vater tue und dass das Gericht doch bitte Milde walten lassen solle.
Es fallen Aussagen wie: „Ich habe meinem Vater verziehen. Ich will nicht, dass er eine Strafe bekommt.“Oder aber: „Es geht mir schlecht, weil ich ihn im Gefängnis sehe. Es tut mir leid, was ich ihm angetan habe. Er hat es ja eingesehen.“Oder auch „Es ist schon länger her und wir haben auch alles vergessen.“Und obwohl die Töchter eigentlich „nichts“sagen wollen, sagen sie damit sehr viel.
Dazu passt auch das Teilgeständnis des Angeklagten, das die zweite Wendung in diesem Fall darstellt. Diese Einlassung wird vom Verteidiger jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen, da sie „höchstpersönliche Bereiche der Familie“ betreffe, wie er bemerkt. Eine Begründung, weshalb er diese Einlassung bis zuletzt aufgeschoben hat, liefert er gleich mit. Demnach habe ihm die Familie des Angeklagten im Vorfeld der Verhandlung „fast täglich die Bude eingerannt“. Er habe viele E-Mails bekommen und sei sogar darum gebeten worden, einen Brief zu dem Mann ins Gefängnis zu schmuggeln.
Zum Teilgeständnis des Angeklagten passt, was der als Zeuge geladene Dolmetscher vor Gericht aussagt. Dieser hatte im vergangenen Jahr eine Audio-Datei übersetzt, die die Töchter heimlich während einer Konfrontation mit dem Vater aufgenommen hatten.
Vor Gericht wird diese Audio-Datei als Beweismittel zugelassen. Auszüge werden abgespielt, woraufhin die ältere der beiden Töchter fluchtartig den Gerichtssaal verlässt, um kurze Zeit später zurückzukehren. Teilweise halten sich die Töchter während des Abspielens die Ohren zu. Und immer wieder schaut der Vater mit finsterem Blick in deren Richtung
und schüttelt den Kopf. So wie es nur Eltern hinbekommen, die ihren Kindern klarmachen wollen, dass sie zutiefst enttäuscht von ihnen sind.
Auf dieser Aufnahme, die hauptsächlich in der Muttersprache der Familie abläuft, habe der Angeklagte, laut Zeuge, den sexuellen Missbrauch in ein paar Fällen zugegeben. Auch gebe die Mutter darauf zu, den Vater bei einem Übergriff erwischt zu haben. Thema des Gesprächs sei auch der Alkoholkonsum des Vaters gewesen, der die Taten im berauschten Zustand ausgeführt haben soll. Am Ende hört man auf Deutsch eine Tochter sagen: „Ich hab’s gemacht. Ich hab den Beweis.“
Zum Abschluss des Verhandlungstages möchte der Angeklagte sich bei seinen Töchtern entschuldigen. Hierfür räumt Richter Bernhard der Familie zehn Minuten zur Aussprache ein, jedoch unter einer Auflage: „Der Dolmetscher ist dabei, und es wird nichts zum Prozess besprochen.“
Und während der Eindruck entsteht, dass die Töchter am liebsten den ganzen Prozess rückgängig machen wollen, geht das Gericht doch weiter seinen Weg. Oder – wie es der Anwalt der Nebenklage ausdrückt: „Wenn der Schneeball rollt, ist er auch nicht mehr aufzuhalten.“
Da es sich bei sexuellem Missbrauch nicht um ein Antragsdelikt, sondern um ein Offizialdelikt handelt, muss die Staatsanwaltschaft den Fall weiter verfolgen und weitere Zeugen vernehmen – bis zur Urteilsfindung.
Das Teilgeständnis dürfte dem Angeklagten zumindest positiv angerechnet werden. Und plötzlich erscheint sogar möglich, was die Töchter sich einstimmig wünschen: Milde gegenüber ihrem Vater, dem Angeklagten.
Was damals vor vielen Jahren tatsächlich passierte, weiß letzten Endes vermutlich nur die Familie selbst. In die psychologischen Strukturen und Abhängigkeiten innerhalb der Familie könnte möglicherweise noch die forensisch-psychiatrische Gutachterin an einem weiteren Verhandlungstag einen Einblick geben.