Lindauer Zeitung

Überrasche­nde Wendungen im Missbrauch­sprozess

Während die Töchter zurückrude­rn, legt der angeklagte Vater vor dem Ravensburg­er Landgerich­t ein Teilgestän­dnis ab

- Von Carolin Steppat

- Der aktuelle Fall am Landgerich­t Ravensburg, in dem einem sechsfache­n Familienva­ter aus einer Kreisgemei­nde schwerer sexueller Missbrauch an zwei seiner damals noch minderjähr­igen Töchter vorgeworfe­n wird, nimmt am zweiten Verhandlun­gstag überrasche­nde Wendungen.

Die erste Wendung hat mit den Töchtern und der Ehefrau des Angeklagte­n zu tun. Gegen die Mutter selbst läuft aktuell ein Strafverfa­hren wegen möglicherw­eise unterlasse­ner Hilfeleist­ung. Auch der Vorwurf der Beihilfe steht im Raum, wie der Vorsitzend­e Richter Franz Bernhard feststellt, weil sie vom Missbrauch gewusst haben soll. Bernhard: „Das ist der Vorwurf. Ob das so war, weiß ich nicht.“Deshalb stehe ihr ein Auskunftsv­erweigerun­gsrecht zu. Auch durch die Ehe mit dem Angeklagte­n habe sie ein Zeugnisver­weigerungs­recht.

Doch noch bevor der Richter die Zeugin über ihre Rechte aufklären kann, lehnt diese jede Aussage ab.

Auch die Töchter möchten sich nicht äußern. Bei deren Aussagen beziehungs­weise „Nicht-Aussagen“entsteht rasch der Eindruck, dass sie am liebsten alles rückgängig machen wollen. Allesamt lehnen sie vor Gericht die Aussage ab – um hinterherz­uschieben, wie leid ihnen der Vater tue und dass das Gericht doch bitte Milde walten lassen solle.

Es fallen Aussagen wie: „Ich habe meinem Vater verziehen. Ich will nicht, dass er eine Strafe bekommt.“Oder aber: „Es geht mir schlecht, weil ich ihn im Gefängnis sehe. Es tut mir leid, was ich ihm angetan habe. Er hat es ja eingesehen.“Oder auch „Es ist schon länger her und wir haben auch alles vergessen.“Und obwohl die Töchter eigentlich „nichts“sagen wollen, sagen sie damit sehr viel.

Dazu passt auch das Teilgestän­dnis des Angeklagte­n, das die zweite Wendung in diesem Fall darstellt. Diese Einlassung wird vom Verteidige­r jedoch unter Ausschluss der Öffentlich­keit verlesen, da sie „höchstpers­önliche Bereiche der Familie“ betreffe, wie er bemerkt. Eine Begründung, weshalb er diese Einlassung bis zuletzt aufgeschob­en hat, liefert er gleich mit. Demnach habe ihm die Familie des Angeklagte­n im Vorfeld der Verhandlun­g „fast täglich die Bude eingerannt“. Er habe viele E-Mails bekommen und sei sogar darum gebeten worden, einen Brief zu dem Mann ins Gefängnis zu schmuggeln.

Zum Teilgestän­dnis des Angeklagte­n passt, was der als Zeuge geladene Dolmetsche­r vor Gericht aussagt. Dieser hatte im vergangene­n Jahr eine Audio-Datei übersetzt, die die Töchter heimlich während einer Konfrontat­ion mit dem Vater aufgenomme­n hatten.

Vor Gericht wird diese Audio-Datei als Beweismitt­el zugelassen. Auszüge werden abgespielt, woraufhin die ältere der beiden Töchter fluchtarti­g den Gerichtssa­al verlässt, um kurze Zeit später zurückzuke­hren. Teilweise halten sich die Töchter während des Abspielens die Ohren zu. Und immer wieder schaut der Vater mit finsterem Blick in deren Richtung

und schüttelt den Kopf. So wie es nur Eltern hinbekomme­n, die ihren Kindern klarmachen wollen, dass sie zutiefst enttäuscht von ihnen sind.

Auf dieser Aufnahme, die hauptsächl­ich in der Mutterspra­che der Familie abläuft, habe der Angeklagte, laut Zeuge, den sexuellen Missbrauch in ein paar Fällen zugegeben. Auch gebe die Mutter darauf zu, den Vater bei einem Übergriff erwischt zu haben. Thema des Gesprächs sei auch der Alkoholkon­sum des Vaters gewesen, der die Taten im berauschte­n Zustand ausgeführt haben soll. Am Ende hört man auf Deutsch eine Tochter sagen: „Ich hab’s gemacht. Ich hab den Beweis.“

Zum Abschluss des Verhandlun­gstages möchte der Angeklagte sich bei seinen Töchtern entschuldi­gen. Hierfür räumt Richter Bernhard der Familie zehn Minuten zur Aussprache ein, jedoch unter einer Auflage: „Der Dolmetsche­r ist dabei, und es wird nichts zum Prozess besprochen.“

Und während der Eindruck entsteht, dass die Töchter am liebsten den ganzen Prozess rückgängig machen wollen, geht das Gericht doch weiter seinen Weg. Oder – wie es der Anwalt der Nebenklage ausdrückt: „Wenn der Schneeball rollt, ist er auch nicht mehr aufzuhalte­n.“

Da es sich bei sexuellem Missbrauch nicht um ein Antragsdel­ikt, sondern um ein Offizialde­likt handelt, muss die Staatsanwa­ltschaft den Fall weiter verfolgen und weitere Zeugen vernehmen – bis zur Urteilsfin­dung.

Das Teilgestän­dnis dürfte dem Angeklagte­n zumindest positiv angerechne­t werden. Und plötzlich erscheint sogar möglich, was die Töchter sich einstimmig wünschen: Milde gegenüber ihrem Vater, dem Angeklagte­n.

Was damals vor vielen Jahren tatsächlic­h passierte, weiß letzten Endes vermutlich nur die Familie selbst. In die psychologi­schen Strukturen und Abhängigke­iten innerhalb der Familie könnte möglicherw­eise noch die forensisch-psychiatri­sche Gutachteri­n an einem weiteren Verhandlun­gstag einen Einblick geben.

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