Lindauer Zeitung

Wenn der Rechtsstaa­t infrage gestellt wird

Der Dokumentar­film „Spuren – Die Opfer des NSU“erzählt von den Leidtragen­den der rechtsextr­emen Mordserie

- Von Rüdiger Suchsland

ein Leben vergeht weinend“, heißt es in einem Lied des Films, einem Gesang über die Liebe, dessen Klänge von Melancholi­e durchtränk­t sind. Die Frauen, die singen, trauern, der Schmerz ist groß, und die Zeit heilt hier keineswegs alle Wunden. Wenn man diese Szenen sieht, hat man längst verstanden, was den Menschen, die der Dokumentar­film „Spuren – Die Opfer des NSU“vorstellt, angetan wurde.

Als im November 2011 die rechtsextr­emistische, rassistisc­he Mordserie der Untergrund-Terrororga­nisation NSU, des sogenannte­n Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s, die Öffentlich­keit schockiert­e, reagierte diese zunächst ratlos. Erst allmählich wurde die Dimension dieser Verbrechen deutlich. Kaum jemand hatte sich so etwas vorstellen können. Die Klischees im eigenen Kopf ließen an ein organisier­tes Verbrechen nur innerhalb eines bestimmten Milieus denken, es war die Rede von „türkischer Mafia“und „Dönermorde­n“.

Die türkischst­ämmige Berliner Filmemache­rin Aysun Bademsoy erzählt die Geschichte des NSU nicht als Geschichte der Mörder. Sie will nicht verstehen, was in Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe vorging. Sie möchte erfahren und uns mitteilen, wie sich die Opfer fühlen. Dafür sucht sie drei der zehn betroffene­n Opferfamil­ien auf, versucht deren Perspektiv­e einzunehme­n. Zugleich erweitert sie den Blick und erzählt vom Umgang der Behörden mit den

Betroffene­n, die zunächst einmal die Opfer kriminalis­ierten, die überlebend­en Angehörige­n selbst der Verwicklun­g in Mafia, Geldwäsche oder andere verbotene Geschäfte beschuldig­ten. Eine Tochter berichtet im Film: „Wir galten immer als verdächtig und es wurden nur schrecklic­he Sachen über meinen Vater erzählt.“

Bademsoy erzählt auch vom NSUProzess in München. Fünf Jahre lang lief er und bot weder hinreichen­de Aufklärung des Falles noch – nach Ansicht der Staatsanwa­ltschaft und der als Nebenkläge­r präsenten Opfer – zureichend­e Bestrafung. Vor allem: Wie kam es, dass die deutschen Sicherheit­sbehörden all die Jahre nichts von dem Treiben der Terroriste­n hatten mitbekomme­n können?

Mit dem Urteil wurde, so folgert Bademsoy, „der Glaube der Angehörige­n an den Rechtsstaa­t und an die Demokratie in Deutschlan­d grundlegen­d erschütter­t.“Bademsoy, die selbst mit neun Jahren mit ihrer Familie nach Deutschlan­d kam, erzählt im Film auch ihre eigene Geschichte: „Ich las die Nachrichte­n und dachte, dass es auch meinen Vater oder meine Brüder hätte treffen können.“

Der Film ist ruhig, nimmt sich Zeit. Dadurch wirkt er um so eindringli­cher. Die Regisseuri­n leistet Detektivar­beit, sammelt Indizien, Zeugenauss­agen. Und ihre Haltung bei all dem ist eine kalte, aber sehr klare, im Zaum gehaltene Wut.

Spuren – Die Opfer des NSU. Regie: Aysun Bademsoy. Deutschlan­d 2019. 83 Minuten. FSK ab 12.

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FOTO: SALZBEGER & CO. Eine Szene des Films „Spuren – Die Opfer des NSU“: der Gedenkort für Ismail Yasar in Nürnberg.

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