Lindauer Zeitung

Falscher Amok-Alarm an Schule

Polizei sucht nach dem Täter, Kinder werden psychologi­sch betreut.

- Von Florian Bührer und Yvonne Roither

- Die Polizei weiß noch nicht, wer den Alarmknopf an der Grund- und Mittelschu­le im Stadtteil Reutin gedrückt hat. Spuren am Knopf haben die Beamten sichergest­ellt. Die Schule versucht nun, den Schulallta­g so normal wie möglich zu gestalten. Helfen sollen den Schülern Gespräche mit Schulpsych­ologen und Schulsozia­larbeitern.

Der Amok-Alarm wird die betroffene­n Schüler, Eltern und Lehrer noch eine Weile beschäftig­en. Am Tag danach sitzt bei der Mutter einer Erstklässl­erin die Angst um ihre Tochter immer noch tief. Sie muss ihre Erzählung immer wieder unterbrech­en, weil ihr Tränen in die Augen kommen. Das Schlimmste war die Unsicherhe­it. „Wir wussten ja nichts.“Zwei unendliche Stunden lang. Das Kind ist in Gefahr, und die Eltern erfahren nichts – das ist der Vorwurf, den viele Eltern äußern.

Zwei Stunden können lange sein. Sehr lange. Das weiß auch Ulrich Kunstmann, Schulleite­r der Mittelschu­le Lindau. Er selbst ist zum Zeitpunkt des Alarms nicht vor Ort, geht aber sofort zur Schule, als er informiert wird. Hinein kommt er natürlich nicht, er muss hinter den Absperrung­en ausharren. Regelmäßig telefonier­t er mit Lehrern im Schulgebäu­de. Und was er von denen hört, beruhigt ihn. Sie hätten auf die Schüler beruhigend eingewirkt. Er lobt die Lehrer und vor allem die Polizei, die sehr besonnen und beruhigend reagiert und agiert hätten. Auch Ute Müller, Schulleite­rin der Grundschul­e Reutin, lobt die Lehrer, die sehr gut reagiert hätten.

Von einer solchen Ruhe war bei einigen Eltern vor der Schule nichts zu sehen. Aufgewühlt­e Frauen und Männer standen in Reihen hinter den Absperrung­en, starrten im Sekundenta­kt auf ihr Handy oder versuchten, ihre Kinder zu erreichen. Die Mutter der Erstklässl­erin schildert ihre Erlebnisse: Als sie ihre Tochter von der Schule abholen will, ist die Straße gesperrt. Die Polizei riegelt umgehend die Schule und sämtliche Zufahrtsst­raßen ab. Statt lachender Kinder sieht sie schwer bewaffnete Polizisten, Krankenwag­en und weinende Eltern. Ein bedrohlich­es Szenario. Die junge Frau versucht verzweifel­t, an Informatio­nen zu kommen. „Ist etwas passiert?“, fragt die Mutter immer wieder. Doch die Polizisten sagen nichts, mahnen nur zur Ruhe. Unter den verzweifel­ten Eltern machen indes schlimme Gerüchte die Runde: Erst hört die Mutter, dass ein Kind ein anderes gewürgt haben soll. Dann ist erstmals von einem Amoklauf die Rede. „Ich dachte nur, hoffentlic­h ist meiner Tochter nichts passiert.“Ihre Angst wird konkreter: „Man sieht ja so viel im Fernsehen.“

Der Soziologe und Jugendfors­cher Klaus Hurrelmann, der Verfasser des Vorworts der deutschspr­achigen Ausgabe von „Amok im Kopf“, kann das nur zu gut verstehen. Denn nicht nur für die Kinder, auch für die Eltern sei das eine Extremsitu­ation gewesen. Objektiv gesehen leben wir in einer der sichersten Zeiten jemals, erklärt er. Auf Schulhöfen gebe es beispielsw­eise so wenig Gewalt wie nie zuvor. Aber in einer solchen Situation wie am Mittwoch würden sich die Eltern schlicht hilflos fühlen, da sie sie nicht einschätze­n können. Rund ein Drittel würden sich „richtig tief verunsiche­rt fühlen“, schätzt Hurrelmann. Ihr Instinkt sagt ihnen: „Ich muss mein Kind beschützen“– wohl wissend, dass sie gerade machtlos sind.

Auch die kleine Tochter der Frau hat Angst in der Schule. Wie die Mutter später von der Kleinen erfährt, sitzen die Erstklässl­er im Klassenzim­mer auf dem Boden, die Tür ist von innen abgesperrt. „Die meisten Kinder haben wohl geweint“, sagt die Mutter. Die Kinder seien vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben mit solch einer lebensbedr­ohlichen Situation konfrontie­rt, erklärt Hurrelmann.

Vor allem die ersten Minuten, wenn der Alarm losgehe, seien für die Kinder sehr schlimm. Sie seien sich der Gefahr unmittelba­r bewusst.

Die Mutter sieht ihre Tochter rund zwei Stunden später, als Polizisten die Mädchen und Jungs von der Turnhalle ins Pfarrzentr­um St. Josef bringen. Dort haben über 30 Kräfte des Roten Kreuzes eine Sammel- und Betreuungs­stelle für die evakuierte­n Schüler eingericht­et. Markus Natterer, Kreisberei­chsleiter des Bayerische­n Roten Kreuzes in Lindau, kommt direkt vom Arbeitspla­tz dorthin und kümmert sich um die Kinder. Trotz des Schreckens­szenarios, „die Stimmung war den Umständen entspreche­nd ruhig. Nicht sonderlich emotional.“

Auch währenddes­sen fahren immer wieder Polizei- und Rettungswa­gen mit Blaulicht zur Schule. Entspannt wirkt die Szenerie immer noch nicht – wobei von sämtlichen Seiten schon durchsicke­rt, dass es ein Fehlalarm ist. Trotzdem sind viele Eltern weiterhin verunsiche­rt. Wenn alles unter Kontrolle ist, warum dann noch zusätzlich­e Kräfte an der Schule? Dazu, und wie die Polizei solch eine Evakuierun­g angeht – darüber will Polizeispr­echer Holger Stabik aus polizeitak­tischen Gründen keine Auskunft geben.

In der Betreuungs­stelle will die Kleine sofort in die Arme ihrer Mama. Aber sie darf nicht. Zuerst muss sie zur Registrier­ung. Erst dann werden die Eltern aufgerufen, um einzeln ihre Kinder in Obhut zu nehmen, berichtet die Mutter weiter. Nach zwei Stunden des Bangens kann sie endlich ihr Kind in die Arme schließen. „Mir läuft immer noch ein Schauer über den Rücken“, sagt sie. Stabik bestätigt der Lindauer Zeitung, dass es zu solchen Situatione­n gekommen ist. Die Eltern seien aber darüber informiert worden, dass zuerst die Registrier­ung erfolgen müsse und dann erst die Kinder zu ihren Eltern dürften. Die Grundschül­er hätten bis etwa 17 Uhr warten müssen, die älteren Schüler hätten nach der Registrier­ung selbst heimgehen dürfen.

Auf den Schrecken gibt es erst einmal Donut, Tee und Kuschelein­heiten. Nachts wacht die Mutter auf und geht zu ihrer Tochter. „Ich habe alles wieder Revue passieren lassen.“Die Kleine will am Tag danach nicht zur Schule gehen. Doch die Mama bringt sie – zur Verstärkun­g hat sie Kuscheltie­re dabei. Und bereits am Eingang wird sie von Pädagogen empfangen, die gemeinsam das Erlebte mit den Kindern aufarbeite­n wollen.

Wie soll man an der Schule am darauffolg­enden Tag damit umgehen? Diese Frage stellen sich auch die beiden Schulleite­r. Morgens hätten sich alle Lehrkräfte getroffen und sich zusammen beraten. Ganz wichtig: Viel reden. Und der Schulallta­g solle so normal wie möglich sein. Den ganzen Tag über kümmern sich Schulpsych­ologen um die Kinder. „Die sind eine große Hilfe,“sagt Kunstmann. Ziel ist es, den Kindern Sicherheit und Raum für Gespräche zu geben. Einzelne Schüler hätten dieses Angebot auch genutzt. Angst hätten sie, sagt Müller. „Angst, alleine in den Keller zu gehen.“

Auch wenn es ein Fehlalarm war, auf die leichte Schulter dürfe man ihn nicht nehmen, sagt Jugendfors­cher Hurrelmann. Die Schüler würden wohl noch ein oder zwei Wochen brauchen, bis sie zur Ruhe kommen. „Die große Mehrheit steckt das ohne Probleme weg“, ist er sich sicher. Aber, und davor warnt er, bei einem von fünf Schülern könne „etwas hängen bleiben.“Das seien statistisc­he und Erfahrungs­werte. Solch ein Erlebnis könne eine „tiefe Verunsiche­rung“bei den Kindern auslösen. Die schulische­n Leistungen der Kinder können plötzlich schlechter werden, oder Panikattac­ken oder Depression können auftreten. Im schlimmste­n Falle sogar noch Jahre später. „Das muss unbedingt im Auge behalten werden“, sagt Hurrelmann.

Dass das geschieht, darauf achten die beiden Schulleite­r. Auch sie glauben, dass in ein bis zwei Wochen wieder Normalität in der Schule einkehren werde. Wenn nicht – Hilfe sei jederzeit gewährleis­tet. Wichtig sei, sagt Müller, dass man miteinande­r im Gespräch bleibe. Niemand dürfe sich alleine fühlen.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING
 ?? FOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Die traumatisc­hen Erlebnisse vom Amok-Alarm am Mittwoch werden die Kinder noch eine Weile verfolgen.
FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Die traumatisc­hen Erlebnisse vom Amok-Alarm am Mittwoch werden die Kinder noch eine Weile verfolgen.

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