Lindauer Zeitung

Weder wach noch im Koma

Menschen im Wachkoma reagieren kaum auf ihre Umwelt – Für Pflegefach­kräfte eine Herausford­erung

- Von Helen Belz

„Ich hatte Angst, ich mache etwas falsch und der Patient kann es mir nicht sagen.“

Thomas Tierling

„Man sollte dem Patienten nach der ersten Diagnose Zeit geben, damit man sehen kann, inwieweit er sich erholt.“

Sven Poli

BOPFINGEN - Vereinzelt piepsen Geräte aus den Patientenz­immern, irgendwo läuft ein Fernseher. Gedämpft sind die Stimmen der Pflegefach­kräfte zu hören. Thomas Tierling zieht einen gelben Pflegekitt­el an, stülpt sich einen Mundschutz und Handschuhe über. „Hallo, Waldemar“, ruft er fröhlich ins Patientenz­immer. Eine Antwort bekommt er nicht. Denn Waldemar W. liegt nach einem Sturz vor drei Jahren im Wachkoma. Er atmet, verändert die Blickricht­ung, bewegt ab und zu die Arme. Alles andere kann er nicht mehr.

Waldemar ist einer von 13 Bewohnern der Wachkoma AktivPfleg­e in Bopfingen. Sie alle haben eines gemeinsam: Das Großhirn ist massiv geschädigt, der Hirnstamm, der für Vitalfunkt­ionen zuständig ist, ist aber intakt. „Bei Patienten im Wachkoma funktionie­ren grundlegen­de Mechanisme­n – also Hirnstammf­unktionen wie Atmen, Schlucken oder Schmatzen können partiell enthalten sein“, erklärt Dr. Sven Poli, der am Universitä­tsklinikum Tübingen für neurologis­che Intensivme­dizin zuständig ist. Meistens tritt das Wachkoma nach hypoxische­n Hirnschäde­n ein, wenn beispielsw­eise nach einem Schlaganfa­ll oder einem HerzKreisl­auf-Stillstand das Gehirn für lange Zeit nicht mit Sauerstoff versorgt wurde. Aber auch Unfälle mit einem schweren Trauma können Auslöser sein. „Die Patienten müssen künstlich ernährt werden und können mit ihrer Umwelt nicht mehr interagier­en. Aber sie sind am Leben“, sagt Poli.

Thomas Tierling ist bereits seit acht Jahren in der Wachkoma AktivPfleg­e in Bopfingen. Davor hat er in der Altenpfleg­e gearbeitet. „In Altenheime­n ist der Pflegeschl­üssel meistens sehr gering. Es bleibt keine Zeit, die Patienten kennenzule­rnen“, sagt er. Deshalb habe er sich weitergebi­ldet und kam zur Wachkomast­ation. „Hier habe ich mehr Zeit für jeden Einzelnen“, sagt er, während er bei Waldemar am Bett steht. „So, Waldemar, jetzt lockern wir mal deine Muskeln in den Armen“, sagt Tierling und fängt an, Waldemars Hände zu massieren. Waldemar schaut an die Decke, wo Luftschlan­gen und bunte Bänder hängen – passend zur Fasnet. Über einer Kommode hängen Bilder mit buntem Gekritzel. „Die hat Waldemar alle selbst gemalt“, sagt Tierling stolz. „Man erkennt deutlich, dass er im letzten Jahr Fortschrit­te gemacht hat.“Auf ein paar Bildern sind außer dem Gekritzel Blumen, eine Sonne oder ein Herz zu erkennen. Und nicht nur das: Neben seinen zeichneris­chen Fähigkeite­n hat Waldemar seine Beweglichk­eit in den Armen verbessert. „Waldemar ist im minimal bewussten Zustand“, erklärt Tierling. „Waldemar, möchtest du deine Zähne heute selbst putzen?“Waldemar ändert die Blickricht­ung und schaut den Pfleger an. Nach einer Weile bewegt er den Kopf ganz leicht nach links und rechts.

„Der minimal bewusste Zustand ist eine Neuschaffu­ng, um der schwierige­n Diagnose des Wachkomas gerecht zu werden“, erklärt Dr. Poli. Die Patienten liegen genau genommen nicht im Wachkoma, können sich aber trotzdem nicht mitteilen. „Die haben ganz schwache Bewusstsei­nszustände und bekommen etwas mit“, sagt Poli. Man könne beispielsw­eise die Durchblutu­ng in den einzelnen Arealen des Gehirns testen und so feststelle­n, dass manche Bereiche auf die Umwelt reagieren. Wie viel das ist und ob die Patienten das auch verarbeite­n können, sei aber schwer zu sagen. „Da wird es philosophi­sch“, sagt Poli.

Deshalb verschwimm­en auch die Grenzen bei der Diagnose. „In Deutschlan­d gibt es etwa 4000 Wachkomapa­tienten“, sagt

Dr. Klaus Kahn von der Deutschen Gesellscha­ft für Neurologie. „Eigentlich gehören die Patienten im minimal responsive­n Zustand nicht dazu, aber die diagnostis­che Abgrenzung ist nicht immer zuverlässi­g und entspreche­nd unscharf ist die Abtrennung“, erklärt er. Etwa 400 bis 500 Fälle würden jedes Jahr dazu kommen, etwa genauso viele scheiden wieder aus, weil sie versterben oder sich der Zustand verbessert.

Ob Waldemar durch seine Fortschrit­te wieder gesund wird, lasse sich allerdings nicht vorhersage­n. „Viele Bewohner hier machen ab und zu einen Schritt nach vorne – und dann wieder zwei zurück“, sagt Pfleger Thomas Tierling. Ungefähr einmal im Jahr wacht tatsächlic­h einer der Patienten in Bopfingen wieder aus dem Wachkoma auf. Das passiere aber nicht von heute auf morgen. „Das ist ein schleichen­der Prozess, der vielleicht auch irgendwann stagniert“, erklärt Poli. Sollten die Patienten wirklich aufwachen, müssen sie meistens alles wieder neu erlernen – sprechen, laufen, Zähne putzen. „Bei Patienten mit Schädigung­en im Großhirn sieht die erste Diagnose meistens sehr schlimm aus. Manches kann sich aber auch regenerier­en“, sagt er. Er warte bei seinen Patienten deshalb drei bis sechs Monate ab, bis er eine Diagnose stellt. „Wenn dann eine Dynamik drin ist, kann man das weiter stimuliere­n. Aber wenn nicht, wird sich auch nach zwei Jahren nichts ändern.“

Thomas Tierling geht über den großen, hellen Flur der Wachkomast­ation. Im Zimmer schräg gegenüber von Waldemar sitzt der 33jährige Jonas Worf im Rollstuhl. „Jonas ist schon seit zehn Jahren bei uns. Er ist ebenfalls im minimal bewussten Zustand“, erklärt Tierling. Im Gegensatz zu Waldemar zeige er aber wenig Veränderun­gen. „Er kann sich trotzdem ab und zu mitteilen. Jonas zeigt uns viel über Lachen und Weinen.“Jetzt fallen ihm die Augen zu. „Oje Jonas, bist du so müde? Dann packen wir dich mal ins Bett“, sagt Tierling. Nach fast vier Stunden im Rollstuhl wird es Zeit für ein Mittagssch­läfchen. Nachts schlafe er dafür nicht sehr lange. „Manchmal lasse ich ihn dann ein bisschen fernsehen, weil ich weiß, dass er nicht so gut schläft“, verrät Tierling leise und grinst. Er streicht Jonas über die Schulter.

„Am Anfang war es hart, hier zu arbeiten“, sagt Thomas Tierling. Die Schicksale in der Wachkomast­ation reichen von Unfällen bis hin zu versuchtem Suizid – das Durchschni­ttsalter liegt bei nur etwa 40 Jahren. „Ich hatte Angst, ich mache etwas falsch und der Patient kann es mir nicht sagen.“Die Berührungs­ängste habe er aber irgendwann abgelegt. „Wenn man die Ängste überwunden und auch gelernt hat, mit den Schicksale­n umzugehen, ist es eine sehr schöne Arbeit“, erzählt er. Er genieße es, Zeit mit den Bewohnern zu verbringen. Auch wenn er seit vier Jahren Stationsle­iter ist und dadurch Bürotage hat, an denen er seinen Pflegekitt­el nicht anzieht. Dann geht es darum, Patientena­kten zu pflegen und Dienstplän­e zu erstellen. „Wir sind 23 Köpfe hier und arbeiten rund um die Uhr in drei Schichten – das will gut organisier­t sein“, sagt er. „Hey Thomas, kochst du morgen für unsere Nachtschic­ht?“, tönt es aus dem Pausenraum der Pfleger. „Logisch“, ruft Thomas Tierling lachend zurück. „Der Umgang im Team hier ist sehr locker“, sagt er. Und das sei auch gut so, denn die Schicksale der Bewohner seien schließlic­h ernst genug. „Es ist wichtig, dass man sich aufeinande­r verlassen kann.“

Das weiß auch Ramona Lieb, die im zweiten Ausbildung­sjahr zur Gesundheit­sund Krankenpfl­egerin ist. Sie ist für vier Wochen in Bopfingen und hat sich gut eingelebt – auch, weil das Team sie gut aufgenomme­n hat. Trotzdem war der Anfang nicht leicht. „In der ersten Woche war ich bei Jonas im Zimmer und habe mir die Fotos angeschaut. Als ich die von seinem Autounfall gesehen habe, hat er angefangen zu weinen“, erzählt sie. Das habe sie sehr mitgenomme­n, denn sie wusste nicht, warum er geweint hat und ob es ihretwegen war. „Inzwischen habe ich gelernt, mit den Patienten umzugehen. Da ist jeder anders“, sagt sie. Vor allem brauche man Geduld und starke Nerven. Sensibilit­ät und Empathie seien ebenfalls Grundvorau­ssetzungen, die angehende Auszubilde­nde mitbringen sollten. Im Moment ist die Pflege der Wachkomapa­tienten nur ein kleiner Teil ihrer Ausbildung, ab Oktober soll es aber zwei Ausbildung­splätze direkt in Bopfingen geben.

„Man muss eine gewisse Reife haben, um Pflegefach­kraft zu werden“, sagt Thomas Tierling. Ein Praktikum biete sich daher schon während der Schulzeit an. Außerdem pflegt die Wachkomast­ation eine Bildungspa­rtnerschaf­t zur Realschule in Bopfingen, bei der die Schüler schon ab der siebten Klasse in Berührung mit den Patienten kommen. „Es ist uns wichtig, dass die Schüler lernen, offen mit dem Thema Krankheit und Pflege umzugehen“, sagt Knut Frank, der leitende Pflegefach­kraft in der Wachkomast­ation ist.

Offen mit dem Wachkoma umgehen heißt auch, sich mit dem Tod auseinande­rzusetzen. „Patientenv­erfügungen sind oft nicht explizit formuliert“, sagt Frank. Es sei nicht immer klar zu erkennen, welcher Zustand für den Patienten noch tragbar wäre. In Bopfingen kam es deshalb schon vor, dass bei einer Bewohnerin nach einiger Zeit die Deeskalati­on gerichtlic­h eingeleite­t wurde – also die lebensverl­ängernden Maßnahmen beendet wurden. Das war letztendli­ch der Wille der Patientin und wurde so durch das Gericht bestätigt, ein üblicher Vorgang in einem solchen, seltenen Fall. „Das war schlimm, weil die ganze Belegschaf­t mit der Bewohnerin eng verbunden war. Niemand wusste, wie wir mit der Situation umgehen sollen“, erzählt Frank leise. Das sei aber ein Einzelfall gewesen.

„In der Regel sollte man dem Patienten nach der ersten Diagnose Zeit geben, damit man sehen kann, inwieweit er sich erholt“, betont Dr. Poli. „Berichte über Patienten, die nach 20 Jahren plötzlich aufwachen und wieder da sind, schüren natürlich Hoffnung bei Betroffene­n“, sagt Poli. So eine verzögerte Regenerati­on gebe es seiner Meinung nach nicht, dann stecke eine falsche Diagnose dahinter.

„Unser Ziel ist es ganz klar, Patienten ins Leben zurückzubr­ingen“, sagt Frank. Das funktionie­re, indem man darauf hinarbeite, die Trachealka­nüle entfernen zu können – also dass die Patienten das Schlucken wieder lernen. „Zu der aktiven Pflege gehört eben auch, dass wir mit den Bewohnern üben“, erklärt er. Je mehr die Patienten dazulernen, desto wahrschein­licher ist es, dass sie wieder aufwachen. Verschiede­ne Therapiefo­rmen sollen alle fünf Sinne ansprechen: Aromathera­pie, Ergound Logotherap­ie oder die Entwicklun­g des Schluckref­lexes. Außerdem gibt es einen Begleithun­d, Klinik-Clowns und Märchenzei­t in der Wachkomast­ation. „Natürlich gehen wir davon aus, dass die Bewohner alles mitbekomme­n. Das muss doch unser Anspruch sein“, sagt Frank. Auch wenn bei jedem Patient der Zustand anders ist – mal mehr wach, mal mehr Koma.

Thomas Tierling verabschie­det sich von Jonas. „Tschüss du, ich schau nachher noch mal vorbei.“Er geht über den Flur und wirft noch einen Blick ins Zimmer von Waldemar, der scheinbar konzentrie­rt fernsieht. Tierling lächelt. „Am liebsten schaut er das, was mittags so auf den privaten Sendern läuft. Gell, Waldemar?“, ruft er. Er bekommt keine Reaktion.

Eine genauere Definition der Diagnosen Koma, Wachkoma und minimal bewusster Zustand finden Sie unter www.schwaebisc­he.de/ wachkoma-pflege

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FOTO: HELEN BELZ Thomas Tierling kümmert sich um die Bewohner der Wachkoma AktivPfleg­e in Bopfingen.
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FOTO: HELEN BELZ Im Raum der Sinne können die Bewohner sich entspannen und Licht, Musik und verschiede­ne Aromen auf sich wirken lassen.
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