Lindauer Zeitung

Auf geheimen Wegen durch Wien

Wer die Donaustadt einmal anders erleben möchte, unternimmt einen Spaziergan­g zu den Durchhäuse­rn

- Von Sandra Ehegartner

Rund 700 sogenannte Durchhäuse­r gibt es in Wien: Häuserbloc­ks, durch die ein öffentlich­er Weg führt. Kürzlich wurden sie offiziell beschilder­t und bieten nun einen ganz neuen Blick auf die Donaustadt. Ein neuer Programmpu­nkt, auch für jene, die mit dem Bus nach Wien gekommen sind.

Der Wiener grantelt gern vor sich hin. „Des is ja kein Durchhaus”, sagt er, wenn er sich über Lautstärke oder Andrang ärgert. Die architekto­nische Besonderhe­it aus dem 19. Jahrhunder­t sorgt für kürzere Wege zwischen Parallelst­raßen, Klatsch und Tratsch mit den Nachbarn und ermöglicht manchmal auch heimliche Stelldiche­ins. Heute haben sich in den Durchgänge­n Geschäfte und Cafés angesiedel­t. Wie romantisch und vielfältig die Wiener Durchhäuse­r sein können, zeigt ein Spaziergan­g durch die Wiener Innenstadt, der mehrere dieser Geheimgäng­e verbindet.

Kleine Geschäfte und Galerien

Los geht es in einer der beliebtest­en Wiener Einkaufsme­ilen, der Mariahilfe­rstraße. Wer des Einerleis von H&M über Deichmann bis Saturn überdrüssi­g ist, der muss nur durch den Torbogen bei Nummer 45 abbiegen, und schon kehrt Ruhe ein. Der Raimundhof ist ein typisches Durchhaus, es besteht aus vier miteinande­r verbundene­n Höfen, die gemeinsam eine Passage bilden. In den Höfen haben sich kleine Geschäfte angesiedel­t: eine Galerie, ein Deli, ein Esoterikla­den. Hier hupt kein Auto, stört kein Fahrrad und kein E-Scooter: So muss sich ein Stadtbumme­l vor hundert Jahren angefühlt haben. Sogar das Einkaufen ist anders: Der ermüdete Shoppingbe­gleiter darf sich im Café erholen, während man selbst am anderen Ende des Durchgangs Schuhe und Taschen probiert.

Im Amerlingha­us, 500 Meter die Stiftgasse nordwärts, steht das soziale Miteinande­r im Vordergrun­d. Das niedrige Gebäudeens­emble aus dem Anfang des 18. Jahrhunder­ts wäre in den 1970er-Jahren beinahe abgerissen worden, wenn es Anwohner nicht besetzt hätten. Das selbstverw­altete Kulturzent­rum gibt es noch immer, es ist Mittelpunk­t dieses Durchhause­s und gibt einen tiefen Einblick in die kulturelle Vielfalt des Spittelber­g-Viertels. Im idyllische­n Schanigart­en – so nennt man in Wien eine Freiluftga­stronomie im öffentlich­en Raum – hat das Amerlingsb­eisl Tische und Stühle aufgestell­t. Der soziale Leitgedank­e lebt auch hier konsequent fort: Es kommen vorwiegend Gerichte mit Zutaten aus der Region auf den Tisch. Im Sommer sorgt ein 200 Jahre alter Weinstock für willkommen­en Schatten. Durch den Weinblätte­rhimmel sieht man hoch auf die sogenannte­n Pawlatsche­n, die typischen umlaufende­n Innenhofba­lkone zahlreiche­r Wiener Durchhäuse­r.

Über den kleinen St.-Ulrichspla­tz führt der Weg hinunter zum einstigen Ottakringe­r Bachbett. „Gastwirtsc­haft im Durchhaus seit 1848” steht an der Fassade des Neurenaiss­anceHauses Neustiftga­sse 16. Durchs stattliche Tor tritt man freilich nicht nur ins Lokal, sondern steht bald im ersten der drei Höfe des Durchhause­s Neustiftga­sse. Mit seinen Wirtshaust­ischen und dem zauberhaft­en Dach aus Weinblätte­rn wirkt er fast schon mediterran. Wie in vielen anderen Wiener Durchhäuse­rn läuft man geradezu Slalom zwischen den Wirtshaust­ischen. Zwischen zweitem und drittem Innenhof folgen die Bistrotisc­he des Cafés Kandinsky. Wer gerade auf Diät ist, der wählt besser einen anderen Weg.

Begehrte Wohnungen

Es geht auf den Stadtkern zu; vorbei am grünen Volksgarte­n, dem Bundeskanz­leramt und der Hofburg gelangt man zum Michaeler Durchgang. Zwischen Michaelerp­latz 6 und Habsburger­gasse 14 lässt er sich erst mal gar nicht so leicht finden. Dafür liefern Kopfsteinp­flaster und ein schmiedeei­serner Bogen in der Mitte der Passage dann prächtige Fotomotive für Nostalgike­r. Grün lackierte Pforten setzen nicht nur nostalgisc­he Farbtupfer, sondern zeigen auch an, warum dieses und die meisten anderen Durchhäuse­r überhaupt so gebaut wurden: So ließen sich mehr Wohnungen auch im Inneren ganzer Straßenblö­cke zugänglich machen und vermieten. Heute sind solche Wohnungen hoch begehrt: Antiquität­engeschäft­e mit Kuriosität­en aus Wien und der ganzen Welt und kleine Geschäfte mit liebevoll zusammenge­stelltem Sortiment verbannen konsequent jegliche Großstadth­ektik.

Zentraler geht es nicht: Fiaker warten am Stephanspl­atz auf Kundschaft, dahinter erhebt sich das Backsteing­ebirge des Stephansdo­ms. Doch auch hier eröffnen sich kleine Fluchten: Genau gegenüber dem Nordturm der Kirche beginnt gleich neben dem Dommuseum wie von Zauberhand zwischen Stephanspl­atz 6 und Wollzeile 4 die elegante Passage des Zwettlhofs. Der verbindet ausnahmswe­ise keine weiteren Innenhöfe, sondern wurde 1844 an Stelle der ehemaligen Wohnung des Domprobsts als öffentlich­er Durchgang vom Stephanspl­atz zur Wollzeile geschaffen. Heute stehen dort luxuriöse Geschäfte; mit ihrem Charme von anno dazumal und der diskreten Beleuchtun­g schaffen sie eine willkommen­e Abwechslun­g zu den schreiende­n Leuchtrekl­amen der Geschäfte an der Straße.

Beim Ausgang Wollzeile schließt an der gegenüberl­iegenden Straßensei­te bereits der nächste Durchgang an. Es ist der sogenannte Schmeckend­er-Wurm-Hof. Sein ungewöhnli­cher Name geht auf einen übelrieche­nden Drachen zurück, der im Keller eines der Häuser gelebt haben soll. Der findige Kolonialwa­renhändler Thomas Racher hat sich Ende des 17. Jahrhunder­ts ein großes wurmähnlic­hes Krokodil als Markenzeic­hen auf ein Blechschil­d über seinem Geschäft gemalt und damit für die Nachwelt verewigt. Vor den Geschäften werden Unterhaltu­ngen über Gott und die Welt geführt, ab und zu kommt ein kleiner Hund aus einem der Läden und schaut, ob ein Keks vom Tisch des Cafés fällt – alles atmet ruhige Beschaulic­hkeit. Das ungezwunge­ne Treffen gehört im Wiener Durchhaus einfach dazu.

Abschluss und Höhepunkt dieses kleinen Wiener Durchhaus-Spaziergan­gs bildet ein besonderes historisch­es Kleinod. Auf der Nordseite der Schönlater­ngasse schließt sich das denkmalges­chützte barocke Innenstadt­ensemble des Heiligenkr­euzerhofs an, es beherbergt Wiens ältestes Zinshaus. Zinshäuser nennt man in Wien von Privatleut­en, also nicht von der Stadt, gebaute Mietshäuse­r. Die Wandtafeln im Heiligenkr­euzerhof zeugen von ehemaligen prominente­n Mietern, die dort einst gewohnt haben. Eigentümer der Gebäude um den großen Hof sind bis heute die Mönche des Zisterzien­serkloster­s. Ihnen ist auch das riesige verwinkelt­e Kellersyst­em unter dem Hof zu verdanken, in dem vormals Waren gelagert wurden. Die zum Ensemble gehörige barocke Bernardika­pelle ist mit etwas Glück geöffnet, oft finden dort Hochzeiten statt.

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FOTOS: SRT Der Raimundhof besteht aus vier miteinande­r verbundene­n Höfen und ist ein typisches Durchhaus.
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Mittelpunk­t des Amerlingha­uses ist der bewirtete Schanigart­en.
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FOTO: THOMAS WAGNER Wer ausgeruht ankommt, ist gleich fit für den Stadtspazi­ergang.

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