Italien riegelt wegen Coronavirus mehrere Städte ab
Wirtschaftsstarke Region Lombardei meldet die meisten Infizierten – Österreich stellt Zugverkehr gen Süden ein
(dpa) - Mit drastischen Maßnahmen wie Sperrzonen will Italien die rasante Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 stoppen. Mehrere Gemeinden in Norditalien wurden abgeriegelt, damit das Virus nicht auf die Wirtschaftsmetropole Mailand, das Touristenzentrum Venedig und andere Regionen übergreift. Der Karneval in Venedig werde genauso wie alle Sportveranstaltungen abgesagt, Museen und Schulen sollen in Venetien bis zum 1. März geschlossen bleiben, kündigte Regionalpräsident Luca Zaia am Sonntag an.
Die Zahl der Infizierten war in Italien über das Wochenende überraschend stark angestiegen. Bis zum Sonntagabend waren es bereits mehr als 150 Fälle, wie Zivilschutzchef Angelo Borrelli erklärte. Am stärksten war die wirtschaftsstarke Lombardei betroffen, wo 90 Fälle gemeldet wurden. Es folgte Venetien mit 25 Infizierten. Darunter gab es auch zwei Fälle in der Stadt Venedig, sagte
Zaia. Auch im Piemont, in der Emilia-Romagna und in Rom hatten sich Menschen angesteckt. Mindestens zwei ältere Menschen starben.
Die Regierung kündigte scharfe Maßnahmen an, um eine Verbreitung in den wirtschaftsstarken Regionen aufzuhalten. Die am stärksten betroffenen Städte wurden abgeriegelt: Niemand durfte rein oder raus. Betroffen ist die Provinz Lodi in der Lombardei rund 60 Kilometer südöstlich von Mailand sowie die
Stadt Vo in der Provinz Padua in Venetien mit rund 3000 Einwohnern.
Aus Furcht vor Coronavirus-Infektionen hat Österreich den Zugverkehr mit Italien komplett eingestellt. Die staatliche österreichische Eisenbahngesellschaft ÖBB teilte am Sonntagabend mit, alle Zugverbindungen mit dem Nachbarland seien ausgesetzt, weil bei zwei aus Italien kommenden Bahn-Passagieren der Verdacht auf eine Infektion mit dem Coronavirus bestehe.
- Niemand weiß, wie lange das Coronavirus in Norditalien schon brütet, wo es sich verbreitet hat, in wem es wartet, auszubrechen. Seit Freitagmorgen jedenfalls, als der erste Fall im Umland Mailands öffentlich wurde, beschleunigen sich die Ereignisse von Stunde zu Stunde. Von einem Tag auf den anderen hat sich das Leben der Menschen verändert, in Teilen steht das öffentliche Leben still. Der Karnelval in Venedig wurde abgebrochen, elf Städte schickte Ministerpräsident Giuseppe Conte in die Isolation. Die Zahl der bekannten Infizierten steigt und steigt: Zwei am Freitag, 39 am Samstag, mehr als 150 am Sonntag. Drei Menschen sterben über das Wochenende. Es ist der weitaus schlimmste bekannte Ausbruch von Sars-CoV-2 in Europa.
Bereits am Freitagmorgen wird der erste Fall öffentlich: Bei einem 38-jährigen Mann aus der 15 000-Einwohner-Stadt Codogno rund 60 Kilometer südöstlich von Mailand. Der Wissenschaftler der Firma Unilever kommt auf die Intensivstation. Seine schwangere Frau, ein Freund, mit dem er Fußball spielte, mehrere Stammgäste einer Kneipe, die der Familie des Freundes gehört, sowie Ärzte und Patienten des Krankenhauses von Codogno, in dem der Mann bis Samstag behandelt wird, haben sich bei ihm angesteckt. Wer aber das Virus eingeschleppt hat, bleibt unklar.
In Codogno sind die Straßen am Wochenende menschenleer. Die Behörden haben Schüler nach Hause geschickt, die Stadtverwaltung hat dicht gemacht, Läden und Arbeitsstätten sind geschlossen, Sportveranstaltungen abgesagt. In der Kirche wird die Messe nicht mehr öffentlich gelesen.
Ein erster Fall wird erstmals auch im Veneto bekannt, in der Nähe Paduas, 250 Kilometer entfernt, bald auch ein zweiter. Am Freitagabend stirbt einer der beiden, ein 78 Jahre alter Mann, in einem Krankenhaus bei Padua – das erste offizielle Opfer von Covid-19 in Italien. Am nächsten Morgen, Samstagfrüh, macht am Mailänder Hauptbahnhof die Bahn darauf aufmerksam, auf polizeiliche Anordnung seien die Bahnhöfe von Codogno und dem benachbarten Casalpusterlengo gesperrt. Die Durchsagen haben etwas Surreales: Die Züge fahren einfach durch. Keiner soll hinein, keiner kommt heraus. Die „rote Zone“dort ist inzwischen auf 11 Kommunen angewachsen, 500 Ordnungskräfte sind abgestellt, sie von der Außenwelt abzuriegeln. Schnell noch einmal in den Supermarkt zu gehen, um die Vorräte zu Hause aufzustocken, erscheint plötzlich auch in Mailand ein vernünftiger Gedanke. Noch herrscht dort unaufgeregte Ruhe.
Ein Mundschutz ist dagegen nicht mehr zu bekommen, Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel sind ausverkauft. Am Nachmittag werden zwei Corona-Fälle auch in der benachbarten Provinz Pavia bekannt, ein Arzt-Ehepaar hat sich angesteckt – wo, das wird ermittelt. In der ganzen Region werden die Fastnachtsveranstaltungen
abgesagt. Das Militär richtet zwei Isoliereinrichtungen ein, erst bei der Luftwaffe in Piacenza, dann 80 Betten in Mailand, weitere Standorte werden gesucht. Die Universität Pavia untersagt Studenten aus der „roten Zone“, am Unterricht und Prüfungen teilzunehmen. Auch drei Fußballspiele der Serie A werden am Wochenende abgesagt.
In Mailand geht das Leben erst einmal weiter, als wäre nichts geschehen. Der Corso Buenos Aires, ein populärer Einkaufsboulevard, ist am Samstagnachmittag bevölkert wie an jedem anderen sonnigen Vorfrühlingstag. Teilnehmer der Mailänder Modewoche treffen sich mit ihren Ferraris zum Feiern im Zentrum. Auch wenn sich zum Beispiel Giorgio Armani entscheidet, seine für Sonntag angesetzte Show mit der Damenkollektion ohne Publikum stattfinden zu lassen. Die Scala feiert eine Opernpremiere bei vollem Haus. Musiker, die im Südosten Mailands wohnen, waren angewiesen worden, zu Hause zu bleiben, aber das Publikum ist so begeisterungsfähig wie sonst auch; da und dort hustet jemand.
Gleichzeitig gehen die Abwehrmaßnahmen am Samstag gegen das Virus weiter. Eine 75-jährige Frau, die sich zur Behandlung ins Krankenhaus von Codogno begeben hatte, stirbt später zu Hause. Die Universitäten in der Lombardei schließen bis 2. März. Im Veneto werden einzelne Schulen geschlossen, der letzte Tag des Karnevals von Venedig ist abgesagt. Ein erster Fall ist nun auch in Turin entdeckt. Stand Mitternacht: Die Zahl der bekannten Erkrankungen in Norditalien liegt jetzt bei 39.
In der Nacht zum Sonntag und den Sonntag über ringen die Mailänder Stadtverwaltung, die Präfektur, die Regierung der Provinz Lombardei und die zuständigen Ministerien in Rom um die richtige Entscheidung, wie weiter zu verfahren sei. In Mailand allein werden zehn Prozent des italienischen Sozialprodukts erwirtschaftet – ein Stopp der öffentlichen Verkehrsmittel, allein der überfüllten U-Bahn, vielleicht sogar ein Abriegeln der Stadt brächte enorme Kosten mit sich.
Fälle wie jener Ende der Woche, als ein Zug im Süden Italiens angehalten wurde, weil eine Passagierin der Polizei die Anwesenheit eines „Chinesen“angezeigt hatte, gelten auch in Italien als nicht wünschenswerte Übertreibung. Die angezeigte Person wurde ausfindig gemacht, mitgenommen und einem Test unterzogen, der Zug blieb stundenlang blockiert. Virologen wie die Mailänder Spezialistin Maria Rita Gismondo, deren Labore mit Schleimhautproben
überschwemmt werden, rufen zum Maßhalten auf. Andererseits werden Infektionen in immer neuen Gebieten entdeckt, nun auch in den Alpen, in einem Vorort von Bormio – ein junger Mann hatte sich in Codogno angesteckt und das Virus nach Hause gebracht. Die Zahl der bekannten Infektionen steigt bis Sonntagabend auf 152 an, 27 Personen liegen auf der Intensivstation. Am Sonntagabend wird der dritte Totesfall gemeldet.
In Mailand sind nun auch andere Leute auf den Gedanken mit den Vorräten gekommen – von vollen Supermärkten wird erzählt. Giuseppe Conte, der Premierminister, lässt sich in Hemd und Pullover inmitten seiner Krisenstäbe in Rom ablichten – dem Volke nah, sogar das Militär stellt er für den Kampf gegen die Viren zur Verfügung. Die Urlaubsinsel Ischia wird für Besucher aus der Lombardei, aus dem Veneto und aus China gesperrt. Ein Team der Weltgesundheitsorganisation hat sich auf dem Weg nach Italien gemacht. Am Sonntagnachmittag wird auch entschieden, dass alle Kindergärten, Schulen und Universitäten in den Regionen Emilia Romagna, Venetien, Friaul, in Bozen und Genua nächste Woche geschlossen bleiben.
In der Lombardei und in Venetien sind auch alle Sportveranstaltungen abgesagt, Kinos und Theater bleiben geschlossen – die Rossini-Premiere an der Scala ist vorläufig also die letzte Vorstellung gewesen. Dass in der kommenden Woche teilweise ohnehin fastnachtsfrei gewesen wäre, mag manche Entscheidung leichter gemacht haben. In den nächsten Tagen wird weiter gezählt, weiter diskutiert, weiter entschieden. Was nach Ablauf der Latenzzeiten noch alles ans Licht kommen wird, kann man sich vorstellen. Dann wird sich auch zeigen, ob Strategien der Isolation und des heroischen Abwehrkampfes noch Aussicht auf Erfolg haben können, oder ob man die Epidemie hinnimmt wie die Grippen auch: mit praktischer Vernunft.