Sittsame Hexen
Von Rowohlt gibt es eine Gesamtausgabe der Werke Kurt Tucholskys. Wir empfehlen sie hiermit zur Lektüre, ganz besonders aber die Seiten 291 bis 298 des ersten Bandes. Anlass: Derzeit treiben sich gehäuft Hexen rum. Niemand weiß, ob es sich bei den Hexen um Männlein oder Weiblein oder eine der 58 anderen Geschlechtsidentitäten handelt oder um verkleidete Kängurus. Es weiß auch niemand, wer in so einem Hexenhaufen das Sagen hat. Tucholsky ging dem Problem auf den Grund und weilte deshalb 1918 in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg.
Er beschreibt, wie diszipliniert es unter den dortigen Hexen zugeht: „Der Hexenweibel Sennespeck schnaufte alle Luft ein, die um ihn war. ,Antreten!‘ brüllte er. Die Schwadron trat an. Hundertundsechzig Hexen, in zwei Reihen sauber ausgerichtet. Am rechten Flügel die Oberhexe Feodorowna Hippenkranz, danach Frau Hexe Deppe, danach Fräulein Mohrchen (aus Sachsen) und alle die andern. ,Stillstann!‘ dröhnte Herr Sengespeck. Sie standen wie die Mauern. Der Weibel verlas den Dienst: ,Heute abend steht die Eskadron geschlossen vor dem Blocksberg am Südhang.
Abrücken dazu um 10 Uhr. 11.40 Besichtigung durch seine Exzellenz den +++. … 12 Uhr bis 4.30 Orgie, mit anschließender Parade vor Höchstebendemselben…‘“
Und es geht munter weiter. Nebenbei erfährt man so, dass ein sittsamer Hexenhaufen einen gestandenen Mann als Chef hat, dass es bei richtigen Hexen noch echte Fräuleins gibt, und dass der Beruf der Oberhexe ein erwähnenswerter ist.
Und heute? Die Sitten sind verkommen. (vp)