Die Rettung der Pflege?
Längst werden nicht mehr genügend Helfer für Senioren gefunden – Soziale Einrichtungen wollen nun auf neuem Weg Nachwuchs in weit entfernten Ländern suchen
- Die junge Frau wirkt zierlich, fast zerbrechlich. Sie heißt Nguyen Tuong Vi, ist 23 Jahre alt und kommt aus Vietnam. Ihr Beruf: Altenpflegekraft. Der gegenwärtige Standort: St. Maria, ein Seniorenheim am Rand der kleinen oberschwäbischen Gemeinde Hohentengen (Landkreis Sigmaringen). „Morgens kümmere ich mich hier um sieben bis acht Bewohner“, berichtet Nguyen Tuong mit feiner Stimme. Waschen, anziehen, essen helfen – was eben so anfällt.
Alleine arbeitet die Frau nicht. Sie ist erst seit Herbst in Deutschland und macht noch ihre Ausbildung. Ihr gefällt es bisher, betont sie. Eine gute Sache für alle Seiten. Die junge Frau aus Südostasien gehört nämlich zu den Hoffnungsträgern fürs deutsche Pflegesystem. Das hat mit zweierlei Dingen zu tun. Der erste Umstand liegt auf der Hand: Deutsche zögern mit einer Berufswahl im Pflegesystem, sei es wegen ungünstiger Arbeitszeiten, einer als bescheiden empfundenen Entlohnung oder wegen der Furcht vor körperlichen wie geistigen Dauerbelastungen. Der zweite Aspekt betrifft den Weg, der inzwischen bei der Suche nach auswärtigen Pflegekräften begangen werden muss. Ein Werben in Nachbarländern reicht oft nicht mehr aus, Pflegeeinrichtungen müssen in die Ferne schweifen. Dass dies funktionieren kann, zeigt das Beispiel von Nguyen Tuong.
Wobei ihre Anwerbung kein Selbstläufer war. Bürokratische Hürden sorgten für Verzögerungen. Die behördlichen Stolpersteine sind problematisch, weil die Zeit fürs Rekrutieren von Fachpersonal drängt. Sozialexperten sind sich einig, dass dem hiesigen Pflegesystem ohne diese Kräfte der Zusammenbruch droht. Als Konsequenz steht im Raum, dass gebrechliche Menschen irgendwann nur noch rudimentär betreut werden könnten. Bei der stark steigenden Zahl von pflegebedürftigen Senioren ein naheliegendes Szenario. Immerhin fehlen nach Schätzungen aus dem sozialen Bereich im Jahr 2030 mindestens 100 000 Altenpfleger. Allein in Baden-Württemberg waren laut der vorliegenden Zahlen von 2018 in diesem Bereich 2685 Stellen nicht besetzt. Die Lage ist also alarmierend. Weshalb im Dezember sogar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für Rekrutierungszwecke auf Tour gegangen ist. Mexiko war sein Ziel.
Als Frage bleibt nur noch, wie sich potenzielle Pflegerinnen und Pfleger jenseits der deutschen Grenze am besten rekrutieren lassen. Eine ausgefuchste Aufgabe – zumal soziale Einrichtungen auch im Ausland bei der Suche nach Arbeitskräften längst mit allen bundesrepublikanischen Wirtschaftszweigen konkurrieren. Der Herausforderung hat sich auch die Stiftung Liebenau zu stellen, ein in sechs Ländern tätiges Sozialunternehmen, das unweit des Bodensees im Meckenbeurer Ortsteil Liebenau seinen Sitz hat. „Wir rechnen damit, dass wir allein für unsere Einrichtungen in Oberschwaben künftig jährlich 60 Pflegekräfte aus dem Ausland brauchen“, sagt Prälat
Michael H. F. Brock, einer der drei Vorstände. „Natürlich zusätzlich zu jenen Mitarbeitern, die wir in Deutschland gewinnen“, wie er betont.
Die Stiftung Liebenau ist katholisch und beschäftigt über 7000 Menschen. Das Heim St. Maria in Hohentengen gehört zu ihr. Nguyen Tuong ist über Umwege in das auf einem Höhenzug unweit der Donau gelegene Dorf gekommen. In ihrem Fall war eine Sprachschule zu Hause in Saigon involviert. „Sie hat den Kontakt nach Liebenau hergestellt“, berichtet die angehende Pflegerin, während sie einem alten Mann aus dem Rollstuhl hilft. Zuvor hatte Nguyen Tuong Deutsch gelernt. Ihre Idee: in ein Land zu gehen, das bessere Verdienstmöglichkeiten bietet als Vietnam.
Dass sich Nguyen Tuong in diesem Zusammenhang ausgerechnet für einen Pflegejob interessiert hat, ist kein Zufall: Das schnelle Altern der Gesellschaften in den meisten etablierten Industriestaaten hat sich durch die globale Vernetzung herumgesprochen. In Ländern wie etwa Vietnam, Indien oder den Philippinen, aus denen traditionell Arbeitskräfte in die Fremde ziehen, liegt es also nahe, solche Chancen zu ergreifen. Prinzipiell gilt das auch für Osteuropa, seit der weltpolitischen Wende von 1989 für viele Branchen in Deutschland Rekrutierungsgebiet. Inzwischen hat sich der Arbeitsmarkt in diesen Landstrichen aber so gefestigt, dass das Gewinnen neuer Fachkräfte für den Einsatz in der Bundesrepublik langsam an seine Grenzen stößt. Eine Erkenntnis, die auch die Stiftung Liebenau gewonnen hat.
Nachwuchs aus anderen Kulturkreisen ins Land zu holen, bringt spezielle Herausforderungen mit sich. So hat der Weg bei Nguyen Tuong nicht nur um die halbe Weltkugel geführt, sondern bedeutet ebenso das Ankommen einer Asiatin im Milieu eines oberschwäbischen Dorfes. Vieles in Hohentengen ist für die Vietnamesin gewöhnungsbedürftig: „Der Dialekt, das kalte Wetter, anderes Essen“, zählt sie auf. Schlechte Erfahrungen hat sie etwa mit den bescheidenen Busverbindungen auf dem flachen Land gemacht – und staunt, dass im vermeintlichen High-Tech-Land Deutschland Internetverbindungen punktuell sehr schlecht sein können. Ungeschickt für ihren täglichen Kontakt mit der Mutter auf der anderen Erdseite: „In Vietnam ist das viel moderner.“Dafür sei der Arbeitsplatz gut und die Kollegen nett. Nguyen Tuong durchläuft nun eine deutsche Ausbildung zur Pflegekraft, inklusive Berufsschulbesuch im nahen Sigmaringen. Ein von der Stiftung Liebenau gestellter
Betreuer hilft ihr beim Einfinden in das neue Leben.
Bei Nguyen Tuong haben zufällige Kontakte zwischen Liebenau und ihrer Sprachschule in Saigon den Weg nach Deutschland geöffnet. Immer wieder spielen Hilfsorganisationen als Kontaktanbahner eine Rolle. Oft sind es jedoch kommerzielle Agenturen. Diese möchte die Liebenau aber aus dem Spiel haben, betont Vorstand Brock. Der Grund: Solche Agenturen lassen sich das Vermitteln an potenzielle Arbeitgeber bezahlen – mit der Folge, dass sich Arbeitssuchende für solche Dienste womöglich hoch verschulden müssen. Brock macht aber deutlich, dass freiwillig und ohne Schulden kommende Kandidaten oberstes Ziel seien.
Die Stiftung Liebenau hat bereits an solchen Strukturen gearbeitet. Sogar eine spezielle Stabsabteilung hat sie dafür gegründet. Grundsätzlich ist es nämlich schwer bis unmöglich, Leute in fremden Ländern ohne dortige Kontakte zu rekrutieren. Deshalb schalten sich so gerne Agenturen dazwischen. Die Liebenau genießt aber in diesem Fall einen entscheidenden Vorteil: die Verankerung in der katholischen Welt. „Die Kirche ist global anzutreffen“, unterstreicht Brock mit Worten diesen Umstand.
Kontakte über die Diözese RottenburgStuttgart haben die Stiftung Liebenau in diesem Fall nach Indien geführt, konkret in den Bundesstaat Kerala, ein Küstenstrich am Arabischen Meer, der historisch schon immer Kontakte Richtung Westen gehabt hat. Dies ist einer der Gründe, weshalb es dort eine starke christliche Minderheit gibt – und ein katholisches Bistum. „Mit diesem sind wir eine Partnerschaft eingegangen“, berichtet Frank Moscherosch, der für solche Fälle zuständige Abteilungsleiter der Stiftung Liebenau. Das Projekt soll zur Gründung eines Deutsch-Internats in Kerala führen. Moscherosch sagt, dass es sich „an arbeitssuchende Krankenschwestern“wende. Sie würden rund ein Jahr intensiv Deutsch lernen, bis ein gehobenes Sprachniveau erreicht ist. Die Stiftung Liebenau finanziert den Schulbetrieb sowie alles Weitere, was zur Übersiedlung nach Deutschland nötig ist – inklusive Flug.
Ein ähnliches Projekt will die Stiftung Liebenau auf den Philippinen aufziehen – dieses Mal über eine private Hilfsorganisation vom Bodensee, dem mit dem PazifikStaat
verknüpften Kressbronn Toril Education Program. Andere Sozialeinrichtungen treiben vergleichbare Initiativen voran. Kürzlich betonte Kai Hankeln, Chef des zweitgrößten deutschen Klinikbetreibers Asklepios, sein Unternehmen werbe seit 2017 „auf den Philippinen, in Mexiko und im Kosovo hoch ausgebildete Pflegekräfte“an. Sprachkenntnisse würden den Leuten noch vor Ort vermittelt. Kirchenrätin Eva-Maria Armbruster vom Diakonischen Werk Württemberg erzählt, ihre Organisation betreibe seit fünf Jahren ein Ausbildungsprojekt im Kosovo.
Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Es tut sich also etwas und es könnte alles so schön sein – gäbe es nicht Amtsschimmel und Bürokratie. Dies wird sogar ministeriell attestiert: „Nach unserer Erkenntnis ist die Erteilung eines Visums zur Einreise nach Deutschland, sei es zur Ausübung des Berufs oder zur Aufnahme einer Pflegeausbildung, häufig mit mehrmonatigen Wartezeiten verbunden“, sagt Markus Jox, Sprecher des Sozialministeriums in Stuttgart. Wegen vieler Visaanträge seien die Sachbearbeiter in den Botschaften überlastet. Die Folgen können so aussehen, wie vor rund drei Jahren im bayerischen Allgäu erlebt. Die dortige Caritas hatte alles für die Schulung von Vietnamesinnen vorbereitet. Am Schluss musste die Ausbildung aber um ein Jahr verschoben werden, weil die nötigen langfristigen Visa nicht rechtzeitig ausgestellt worden waren. Die Caritasfunktionäre tobten.
Immerhin soll es bei diesen Konsularangelegenheiten ab nächsten Monat Erleichterungen geben. Dann tritt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz des Bundes in Kraft. Damit entfällt die Prüfung, ob nicht auch ein Deutscher für den anvisierten Arbeitsplatz infrage kommt. Insider der Pflegebranche glauben jedoch, dass dies zu wenig ist, um die Bearbeitung der Anträge spürbar zu beschleunigen.
Des Weiteren bleibt noch ein anderes Problem: Eventuell vorhandene ausländische Berufsabschlüsse müssen von den Regierungspräsidien der Einsatzorte anerkannt werden. Da die Leute von den Sozialeinrichtungen schon ausgesucht sind, scheint dies grundsätzlich zu funktionieren. Nach Erfahrungen aus dem Pflegebereich bleiben aber auch dort wegen personeller Engpässe Unterlagen liegen. Hinzu kommt noch etwas, das skurril erscheint: Wechselt die ausländische Pflegekraft in einen anderen Regierungsbezirk, muss der ausländische Berufsabschluss neu beurteilt werden. So sieht es der Gesetzgeber vor.
Mit diesen Prozeduren hat Nguyen Tuong in Hohentengen erst einmal nichts mehr zu tun. Sie kann sich ihrer Ausbildung und der Pflege widmen. „Ein nettes Mädle ist das“, sagt einer ihrer Betreuten, ein gebrechlicher Herr in St. Maria, in breitem Schwäbisch. Sie lächelt.
Für Nguyen Tuong Vi aus Saigon bringt der Umzug nach Oberschwaben viele Veränderungen mit sich.
„Der Dialekt, das kalte Wetter, anderes Essen.“