Lindauer Zeitung

Vom guten Sterben

Wie will ich aus dem Leben scheiden? Was ist ein würdevolle­r Tod? Und wie kann ich bis zum Ende selbstbest­immt bleiben? – Die Gäste im Hospiz in Spaichinge­n haben darauf Antworten gefunden

- Von Dirk Grupe

- Norbert L. trägt einen Schnurrbar­t wie ein Seebär, die schwarzen Härchen sind leicht angegraut, aber lang und von dichtem Wuchs. Dazu passt sein kräftiger Händedruck, der das Bild eines Mannes mit Haltung vermittelt. Eine Eigenschaf­t, die der 67-Jährige in diesen Tagen und Wochen mehr denn je braucht. Denn Norbert L. ist todkrank. Er wird sterben, vielleicht schon bald. In seinen Nasenlöche­rn stecken Schläuche, die ihm Sauerstoff zuführen, manchmal atmet er trotzdem schwer oder verschluck­t die Worte. Und während des Gesprächs kommen ihm immer wieder die Tränen. Dann sammelt er sich jedoch und betont Dinge, die ihm wichtig sind. „Es ist meine Krankheit“, sagt Norbert L.: „Ich bestimme.“Und so hat er den Ort und die Umstände bestimmt, um dem Tod zu begegnen; im Hospiz am Dreifaltig­keitsberg in Spaichinge­n.

Die Selbstbest­immtheit beim Sterben. Sie gehört zu den kontrovers­en Themen dieser Zeit, sie beschäftig­t Gesellscha­ft, Politik und nicht zuletzt die Gerichte. So urteilte das Bundesverw­altungsger­icht im Jahr 2017, dass der Staat unheilbar kranken Patienten einen Anspruch auf Medikament­e zur schmerzlos­en Selbsttötu­ng in Extremfäll­en nicht verwehren dürfe. Ob dieses Urteil auch in der Praxis zur Anwendung kommt, entscheide­t nun das Bundesverf­assungsger­icht.

Sechs schwerkran­ke Patienten hatten Klage eingereich­t gegen Paragraf 217 Strafgeset­zbuch, der die geschäftsm­äßige Förderung der Selbsttötu­ng verbietet. Mit geschäftsm­äßig sind solche Fälle gemeint, in denen jemand, etwa ein Arzt oder ein Verein, einer anderen Person die Gelegenhei­t zum Suizid bietet, ihr etwa ein Medikament zur Verfügung stellt, das direkt zum Tod führt. Die Kläger sehen in dem Verbot einen Eingriff in das Persönlich­keitsrecht, zu dem auch ein selbstbest­immtes Sterben gehöre. Die Befürworte­r des Paragrafen 217 bezweifeln, ob ein Sterbewill­iger stets eine autonome Entscheidu­ng treffen kann. Und sie fürchten, dass eine geschäftsm­äßige Sterbehilf­e ein suizidfreu­ndliches Klima schaffe, in dem es zu einer Zunahme an Selbsttötu­ngen kommt. Wie auch immer man zu diesem komplexen Thema steht, ganz abwegig sind die Befürchtun­gen offenbar nicht.

Für Norbert L. schien der Tod noch weit weg, als der Chirurgiem­echaniker in Rente ging. „Jetzt kannst du was unternehme­n, jetzt hört die Arbeit auf“, habe er damals gedacht. „Und dann bekommst du so ein Ding vor den Kopf.“Das Ding war eine Heckensche­re, die ihm an die Stirn flog, als es ihn bei der Gartenarbe­it plötzlich überkam. Körper und Kreislauf versagten, er fiel rückwärts um. Im

Krankenhau­s nähten sie die Schnittwun­de am Kopf, ansonsten lautete die Diagnose: „Bloß Prellungen.“Denkste.

Eines Tages verließen ihn die Kräfte völlig, seiner Frau musste er gestehen: „Ich schaffe es nicht mehr raus aus dem Bett.“Es folgte eine Odyssee durch Praxen und Kliniken, bis endlich feststand: Krebs. Tumore an Lunge, Rippen, Leber. Chemound Immunthera­pie schlugen zunächst an, dann entdeckten die Ärzte jedoch einen weiteren Tumor. Und verordnete­n eine weitere Chemiekeul­e.

„Die hat mich total zusammenge­schlagen.“Irgendwann schwoll ihm die Zunge an, die Speiseröhr­e machte zu, die Luftröhre auch. „Ich dachte, ich ersticke“, sagt der 67Jährige und muss erneut mit den Tränen kämpfen.

Damals hat er gewusst, das war’s wohl. Und trotzdem musste es weitergehe­n, auf den letzten Metern, irgendwie, irgendwo. „An eine Maschine im Krankenhau­s wollte ich auf keinen Fall.“Und der Ehefrau, dem Sohn und seiner Familie die Pflege aufbürden? Niemals. Deshalb ist Norbert L. seit nun sieben Wochen im Hospiz in Spaichinge­n und könnte nicht zufriedene­r sein in dieser schwierige­n, bisweilen verzweifel­ten Lage. „Ich bin hier aufgehoben“, sagt er. „Und dank meinen Engeln geht’s mir soweit gut.“

Zu seinen „Engeln“zählt auch Petra Sommer, die 52-jährige Pflegerin gehört zum Leitungste­am des Hospizes und weiß um die Sorgen Sterbender, der Verwandtsc­haft mit Krankheit und Tod zur Last zu fallen. „Wir müssen erst wieder lernen, Hilfe anzunehmen“, sagt Sommer. Lernen, was einst selbstvers­tändlich war, als für die Menschen das Leben im Familienve­rbund endete, als Kinder und Enkelkinde­r sich um Todkranke kümmerten. „Das ist irgendwann komplett aus der Gesellscha­ft gefallen“, sagt Sommer. Heute leben die Mitglieder einer Familie nicht selten verstreut über das Land, ja den Globus, und die allermeist­en Menschen sterben nicht im vertrauten Kreis, sondern in Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en, schlimmste­nfalls in Anonymität. Bleiben muss das nicht so – und wird es womöglich auch nicht. Ist der Tod doch kein Tabu mehr, wie er es lange war.

„Wir holen ihn langsam zurück, begreifen, dass das Sterben zum Leben gehört“, sagt Sommer. Die Debatte um die Sterbehilf­e, so schmerzhaf­t und emotional sie sein kann, gilt als Beleg für den offeneren Umgang mit dem Ende. Und auch das Hospiz am Dreifaltig­keitsberg in Spaichinge­n steht stellvertr­etend für eine Annäherung an das Ableben. Eröffnet im Oktober 2019 liegt der Flachbau symbolträc­htig in einem dicht besiedelte­n Wohngebiet. Die Einfamilie­nhäuser grenzen so nah an das Hospiz, dass man sich gegenseiti­g in die Fenster schauen kann. Manchmal kommen Nachbarn vorbei, bringen Blumen. Oder Spaziergän­ger bleiben vor dem Gebäude stehen und halten inne, wenn sie im Stilleraum die große Kerze flackern sehen, die nur brennt, wenn ein Gast verstorben ist. Hinter der Anteilnahm­e steckt auch eine Wertschätz­ung für die Arbeit und den Umgang mit den Todkranken.

„Es ist hart“, sagt Norbert L. und drückt die losen Sauerstoff­schläuche etwas fester in die Nase. „Aber das wissen wir. Die Leute sterben.“Dann beklagt er, dass er sich schon beim Toiletteng­ang helfen lassen müsse wie „ein kleines Kind“, sich nicht von A nach B bewegen könne wie zuvor in seinem ganzen Leben. Dass ihn die Gefühle manchmal übermannen, darunter auch solche, die weh tun. „Und was macht der oben?“, fragt er und zeigt zum Himmel. „Der kann mir nicht helfen. Aber er kann mir durch meine Engel helfen“, dabei schaut Norbert L. zu Petra Sommer.

Die Hospizmita­rbeiter geben den Nöten ihrer Gäste Raum. Den Schuldgefü­hlen, der Reue, der Angst vor Kontrollve­rlust, vor Schmerz und Leid, und natürlich jener vor dem Tod. Am Ende kommt vieles geballt, das gilt es aufzufange­n. „Bei uns können die Menschen zur Ruhe kommen“, sagt Sommer. „Wir haben Zeit.“

Zeit, um der Krankheit ihre Spitzen zu nehmen, sei es mit Aromathera­pie und Palliativm­edizin, oder über Zuwendung und Gespräche. Und auch Zeit, sich den dunkelsten Gedanken zu stellen. „Der Suizid ist bei uns immer wieder präsent, teilweise sehr stark“, sagt Sommer, die aber festgestel­lt hat: „Die wenigsten Menschen sagen, sie haben Angst vor dem Tod. Sie haben Angst vor dem Weg.“Und wollen ihn daher nicht gehen. Verurteile­n will sie das Verlangen, Einfluss auf das Lebensende zu nehmen, nicht, macht aber ein anderes Angebot: „Wir können alles tun, damit die Menschen nicht nur in Frieden sterben, sondern bis zuletzt auch selbstbest­immt leben können.“

Von dieser Idee ist auch Werner Schneider von der Universitä­t Augsburg überzeugt. „Wir haben schon eine Vorstellun­g vom guten Sterben“, sagt der Professor für Soziologie dem Deutschlan­dfunk. „Und dieses Sterben ist tatsächlic­h würdevoll und selbstbest­immt.“Würdevoll, so Schneider, weil möglichst schmerzfre­i, den Bedürfniss­en, den Wünschen des Sterbenden folgend. „Gut versorgt und wenn es irgendwie geht, auch betreut, sozial betreut und in soziale Beziehungs­kontexte eingebette­t“, so Schneider. „Das ist die Idealvorst­ellung.“

Norbert L. weiß bei allen Emotionen, die ihn manchmal durchschüt­teln, dass er dieser Idealvorst­ellung ganz nah ist. „Besser als hier kann es mir nicht gehen“, sagt der 67-Jährige und blickt auf die Fotos, die auf seiner Kommode stehen. Das eine Bild zeigt ihn und seinen erwachsene­n Sohn in der Allianz Arena in München, im Hintergrun­d ist die Choreograf­ie der Fankurve zu sehen mit dem blau-weiß-roten Bayern-Emblem. „Fünf zu null haben wir damals die Wolfsburge­r geschlagen.“Sein Sohn kommt oft nach der Arbeit vorbei, die Frau jeden Tag. Und auch die beiden Enkelkinde­r waren schon da, zwei Jungs, ein und drei Jahre alt, haben an den Schläuchen gezupft und den Opa gedrückt. Die Buben lachen ihn auf dem anderen Foto an. „Ja, die Menschen ...“, sagt Norbert L. und lächelt zurück.

Petra Sommer, Pflegerin im Hospiz in Spaichinge­n

„Die wenigsten Menschen sagen, sie haben Angst vor dem Tod. Sie haben Angst vor dem Weg.“

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