Keine Küsse mehr in Mailand
Zwei Wochen nach Ausbruch des Coronavirus kämpft Italien weiter – und schließt Schulen
- Schulen geschlossen, Universitäten geschlossen, Kinos geschlossen. Theater geschlossen. Züge, die nach Fahrplan verkehren, und in denen niemand sitzt. Fast zwei Wochen befindet sich Norditalien jetzt im Ausnahmezustand. Bis Ende Februar, so hieß es zunächst. Jetzt macht sich der Eindruck breit: Das ist erst der Anfang.
Bis Dienstag zählten die italienischen Behörden 79 Tote. Insgesamt haben sich mehr als 2500 Menschen mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert. Mit jeder neuen Woche, inzwischen fast jeden Tag, verfügt die Regierung Maßnahmen, die sie in der Vorwoche noch auszuschließen versuchte. Am fällt der Entschluss, dass Schulen und Universitäten in ganz Italien zu schließen. Überall werden plötzlich Kompetenzen in Telearbeit und Unterricht per Video aus dem Boden gestampft. Lehre Nummer eins: Das Leben eines Landes kann sich ändern, von einem Tag auf den andern.
„Besonnen bleiben“ist die Devise. Plötzlich haben Fachleute das Sagen, Virologinnen, Epidemiologen, Intensivmediziner; die verantwortlichen Politiker fassen ihre Empfehlungen in Vorschriften. Medien berichteten, dass das Expertenkomitee der Regierung
eine Liste vorgeschlagen habe. Darunter sei der Verzicht auf „Baci“– Küsse, Umarmungen und Händeschütteln, wenn man sich trifft. Stattdessen wird ein Meter Abstand empfohlen.
Für die Vernunft sind die Zeiten aber nicht leicht. Der Blick auf Covid-19 ist wie der Blick in die Sterne: Die Zahl der Infizierten liefert Bilder aus der Vergangenheit. Bis zu zwei Wochen kann es dauern von der Ansteckung bis zu Symptomen. Um ein Bild der aktuellen Verbreitung zu erhalten, müsste man die gesamte Bevölkerung
jeden Tag aufs Neue testen. Inzwischen ist man dazu übergegangen, meist nur noch Leute mit Symptomen zu testen, wenn diese in Kontakt mit medizinischen Einrichtungen treten – wie auch in Deutschland. Leuten älter als 65 wird geraten, die Wohnung bis auf Weiteres möglichst gar nicht zu verlassen. Das Problem: Wie soll man vernünftige Entscheidungen treffen, wenn man die Fakten nicht kennt?
Die öffentliche Stimmung schwingt zwischen Zuversicht und Angst, Angst auch um den Arbeitsplatz, zwischen Sachkunde und Verwirrtheit, zwischen Tatendrang und Ergebung. Ein paar Tage nach ihrer Schließung, durften Bars und Restaurants in Mailand wieder öffnen. Die Leute wollten sich ihren Aperitivo nicht nehmen lassen. Museen wurden für beschränkte Kontingente wieder geöffnet, auch der Mailänder Dom – solange die Besucher Abstand zueinander halten, scheint die Ansteckungsgefahr begrenzt. „Milano non si ferma“, Mailand bleibt aktiv, so lautete ein Slogan des Oberbürgermeisters Giuseppe Sala, der von vielen aufgegriffen und von den Medien verstärkt wurde – für ein paar Tage, denn noch immer liegt die Ansteckungsrate wohl bei eins zu zwei. Damit die Epidemie zum Stillstand kommt, dürfte ein Infizierter nicht mehr als eine weitere Person anstecken. Im Ausnahmezustand lernt Italien auch etwas über seine Politiker. Staatspräsident Sergio Mattarella empfiehlt Respekt vor der Wissenschaft. Regierungschef Giuseppe Conte gibt sich als Krisenmanager, beruhigt, bereitet die Bürger aber auch auf drastischere Maßnahmen vor.
Einen Skandal produzierte der Präsident der Region Veneto, Luca Zaia von Salvinis Lega. Zaia rühmte vor Kameras die hygienischen Errungenschaften seiner Venetier: Duschen, Kühlschränke, überhaupt eine Hochkultur der Reinlichkeit, die dem Virus keinen Nährboden biete. In China sehe das leider anders aus, „wir alle“hätten Chinesen gesehen, „die lebende Ratten essen“. Für die Sache mit den Ratten musste sich Zaia anschließend bei der chinesischen Botschaft entschuldigen.
Inzwischen stehen Italiener selbst in China unter Verdacht, das Virus einzuschleppen. Chinesen stehen in Norditalien unter Verdacht, Norditaliener werden in Sizilien beschimpft, und die Bewohner der gesperrten „roten Zone“im Südosten der Lombardei fühlen sich von allen geächtet. Dort musste gestern das Militär medizinisches Personal hinschicken, damit den Unglücklichen geholfen wird.