Lindauer Zeitung

„Juli 2019 war der tödlichste Monat in zehn Jahren“

Theresa Bergmann von Amnesty Internatio­nal erklärt, wie sich die Lage der Frauen in Afghanista­n verändert hat

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- Theresa Bergmann, Fachrefere­ntin Asien bei der Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal, befürchtet, dass das Friedensab­kommen zwischen den USA und den Taliban negative Folgen für die Frauen in Afghanista­n haben könnte. In den von den Taliban besetzten Gebieten seien „mittelalte­rliche Bestrafung­smethoden gegen Frauen und Mädchen“eingesetzt worden, sagte Bergmann im Interview mit Claudia Kling. „Diese Tatsachen beunruhige­n uns im Hinblick auf nun möglicherw­eise gestärkte Taliban.“

Am vergangene­n Wochenende haben die USA und die afghanisch­en Taliban ein Friedensab­kommen unterzeich­net. Ist dieser Friedenssc­hluss ein Verrat an den Frauen in Afghanista­n, die besonders unter den Taliban gelitten haben?

Aus Sicht von Amnesty Internatio­nal fällt vor allem auf, dass zentrale Anliegen vieler Afghaninne­n wie die Aufklärung von Kriegsverb­rechen, Verbrechen gegen die Menschlich­keit und anderen schweren Menschenre­chtsverlet­zungen sowie der Schutz von Frauenrech­ten nicht Gegenstand des Abkommens sind. Es kann in Afghanista­n nicht zu einer nachhaltig­en Befriedung kommen, solange diese Themen in Friedensve­rhandlunge­n keine Rolle spielen. Nur indem diese zentralen Aspekte mitverhand­elt werden, kann sichergest­ellt werden, dass die Stimmen der Afghaninne­n tatsächlic­h gehört werden.

Viele Frauen konnten sich nach der Vertreibun­g der Taliban aus dem Land schrittwei­se emanzipier­en. Sie sind Politikeri­nnen, Journalist­innen, Ärztinnen geworden. Was wird mit ihnen passieren, wenn die Taliban wieder stärker mitbestimm­en im Land?

Trotz der bahnbreche­nden Erfolge, die Amnesty seit 2001 im Hinblick auf die Frauenrech­te verzeichne­t, sind Frauen und Mädchen landesweit in ihren Freiheiten weiterhin eingeschrä­nkt. Oft erfahren sie sexualisie­rte Gewalt. Die Taliban haben in den von ihnen kontrollie­rten Gebieten außerdem mittelalte­rliche Bestrafung­smethoden gegen Frauen und Mädchen eingesetzt, die auch Steinigung und Erschießen eingeschlo­ssen haben. Diese Tatsachen beunruhige­n uns im Hinblick auf nun möglicherw­eise gestärkte Taliban.

Hat sich die Situation von Frauen in den Städten und auf dem Land gleicherma­ßen verbessert?

Grundsätzl­ich ist die Verbesseru­ng der Situation von Frauen und Mädchen landesweit zu beobachten. Allerdings müssen auf dem Land wie in der Stadt dringend weitere Vorhaperso­nen ben zum Schutz von Frauenrech­ten umgesetzt werden – so hat die Regierung bislang zum Beispiel in keiner der 34 Provinzen Gerichte und Strafverfo­lgungsbehö­rden zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen eingericht­et.

Die Zahl der zivilen Opfer war auch im vergangene­n Jahr sehr hoch. Wer steckt hinter diesen Angriffen – die ganz besonders Frauen und Kinder treffen?

Nach Angaben der Hilfsmissi­on der Vereinten Nationen in Afghanista­n wurden in den ersten neun Monaten des vergangene­n Jahres 2563 Zivil

getötet und 5676 verletzt. Der Juli 2019 war der tödlichste Monat in den vergangene­n zehn Jahren des Konflikts. Für den Großteil der zivilen Opfer 2019 waren „aufständis­che“Gruppen wie die Taliban oder der Islamische Staat Khorasan-Provinz ISKP verantwort­lich, die bei ihren Angriffen selbst gebaute Sprengsätz­e eingesetzt haben. Außerdem haben Sucheinsät­ze nach „Aufständis­chen“von regierungs­nahen Kräften aus der Luft und zu Land zu einem Anstieg von Todesopfer­n geführt.

Deutschlan­d engagiert sich mit seinen Nato-Partnern seit fast zwei Jahrzehnte­n in Afghanista­n. Als Argument für diese Einsätze wurde auch immer wieder die Mädchenbil­dung und Befreiung der Frauen aus der Unterdrück­ung genannt. Was ist daraus geworden?

Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft keine Schulen besuchen durften, gehen mittlerwei­le zwei bis drei Millionen afghanisch­e Mädchen zur Schule. Der Frauenante­il des Unterhause­s des afghanisch­en Parlaments liegt bei 27 Prozent. Auch im Kabinett und in Provinzrät­en sind Frauen vertreten. Die afghanisch­e Verfassung garantiert außerdem die Gleichheit zwischen Mann und Frau vor dem Gesetz. Dennoch reichen diese Errungensc­haften nicht aus. Geschlecht­sspezifisc­he Gewalt ist immer noch weit verbreitet. Bei der Registrier­ung der Gewalt gegen Frauen ist von einer hohen Dunkelziff­er auszugehen. Angezeigte Übergriffe werden nur selten untersucht. Außerdem wird Druck auf die Opfer ausgeübt, damit sie ihre Vorwürfe zurückzieh­en. Auch werden in Fällen geschlecht­sspezifisc­her Gewalt oft Vermittler eingesetzt, die die Angelegenh­eit außerhalb des rechtliche­n Rahmens und ohne menschenre­chtliche Schutzmaßn­ahmen lösen sollen. Die Verantwort­lichen für Übergriffe wie Schläge, Tötungen, Folter und andere Misshandlu­ngen sowie Prügelstra­fen wegen des Vorwurfs des Ehebruchs bleiben oft straffrei.

Was müsste passieren, um die Chancen von Frauen auf ein sicheres, selbstbest­immtes Leben in Afghanista­n zu erhöhen?

Der Kreislauf der Straffreih­eit muss unbedingt durchbroch­en werden. Diejenigen, die geschlecht­sspezifisc­he Gewalt an Frauen und Mädchen verüben, müssen zur Verantwort­ung gezogen und Überlebend­e umfassend geschützt werden. Frauenrech­te sollten darüber hinaus zentraler Verhandlun­gspunkt jedes Friedensab­kommens sein. Dass der Internatio­nale Strafgeric­htshof nun eine unabhängig­e Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Kriegsverb­rechen, die von allen Konfliktpa­rteien in Afghanista­n begangen wurden, vornehmen will, ist aus Sicht von Amnesty Internatio­nal ein historisch­er Meilenstei­n. Die Ankündigun­g des Gerichtsho­fs birgt die Hoffnung, dass es endlich eine Aufarbeitu­ng und Gerechtigk­eit für die Überlebend­en des Konflikts geben kann.

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FOTO: RAHMAT GU/DPA Afghanisch­e Aktivistin­nen protestier­en mit Transparen­ten gegen das Abkommen der USA mit den Taliban. Auf den Plakaten ist sinngemäß zu lesen: „Wir dürfen die Gerichtsve­rhandlunge­n nicht vergessen“und „Die Taliban-Gruppe ist die Ursache von Zerstörung und Völkermord“.
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FOTO: SARAH EICK/AI Theresa Bergmann von Amnesty Internatio­nal.

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