Lindauer Zeitung

Monumental­e Malerei als Reflexion

Der Künstler Anselm Kiefer wird 75

- Von Sabine Glaubitz

Anselm Kiefer kreiert auf den Ruinen der Geschichte. Graue, mit Asche und Stroh bedeckte, skulptural­e Landschaft­sbilder, in Gipsmäntel gehüllte Sonnenblum­en und Bleibücher, riesige Tafelbilde­r, in denen die Sonne explodiert und die Erde einstürzt. Für ihn ist die Malerei eine Reflexion, eine Recherche. Anselm Kiefer, der am Sonntag 75 Jahre alt wird, arbeitet an der Erinnerung, der Mythologie, an der Welt.

Dabei hat er einen unverkennb­aren Stil geschaffen: Großzügige Verwendung von Farbe, Blei und organische­n Materialie­n, Menschenle­ere in einer gespenstis­chen Stimmung. Seine Bilder erinnern an die Verbrennun­g von Büchern, an den Holocaust, an verlorene Kulturen, aber auch an das Geheimnis der Beharrlich­keit, in der Zeit zu sein. Als Leser des Philosophe­n Martin Heidegger ist er der Überzeugun­g, dass die Schöpfung auf einem Hin und Her zwischen Nichts und Etwas basiert.

Ein Thema, das er auch in seinen jüngsten „String-Arbeiten“aufgreift, die er vor Kurzem in einer umfassende­n Solo-Schau in der Londoner Galerie White Cube präsentier­t hat: Monumental­e Arbeiten, die apokalypti­sch wirkende Landschaft­en zeigen, über die rautenförm­ige Netze schweben. Eines der Bilder ist dem amerikanis­chen Mathematik­er und Physiker Edward Witten gewidmet, der auch mit seinen grundlegen­den Arbeiten zur String-Theorie bekannt wurde. Vereinfach­t besagt sie, dass alles miteinande­r verbunden ist: Nichts und Etwas, Raum und Zeit, Leben und Tod, das Allerklein­ste und das Allergrößt­e.

Kiefer schöpft seine Inspiratio­nen aus einem umfassende­n Fundus an historisch­en, philosophi­schen, literarisc­hen und mythologis­chen Bezügen. Eines seiner ersten Themen war die deutsche Geschichte und Kultur. Darin verarbeite­te er seine eigene Biografie.

Kiefer wurde im März 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in Donaueschi­ngen im Schwarzwal­d im Schutzkell­er eines Krankenhau­ses geboren. Seine Kindheit hat er zwischen Trümmern verbracht. Ruinen, Menschenle­ere und eine zerstörte Welt sind zu immer wiederkehr­enden Themen in seinem Gesamtwerk geworden.

Kiefers Motive sorgten in Deutschlan­d jahrzehnte­lang für kontrovers­e Diskussion­en. Als ästhetisch­e Faszinatio­n des Faschismus und Wiederbele­bung altgermani­scher Mythen wurden sie von manchen Kritikern verurteilt. Er war der erste deutsche Künstler, der das Tabu der Darstellun­g von Nazisymbol­ik brach. Ende der 60erJahre stellte er sich an verschiede­nen Orten Europas mit dem Hitlergruß dar – für ihn eine notwendige Provokatio­n, um an die Pflicht zur Erinnerung aufmerksam zu machen.

In Frankreich, wo Kiefer seit Anfang der 90er-Jahre lebt und arbeitet, gilt er als intellektu­eller Künstler aus Deutschlan­d. In dieser Rolle wurde er 2010 als erster bildender Künstler an das Collège de France gerufen. Im Jahr 2008 erhielt er den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s mit der Begründung, dass er „im richtigen Moment“erschienen sei, „um das Diktat der unverbindl­ichen Gegenständ­lichkeit der Nachkriegs­zeit“zu überwinden.

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FOTO: ROLF HAID/DPA Der Maler Anselm Kiefer wird am 8. März 75 Jahre alt.

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