Wie sich Lindau den inneren und äußeren Frieden bewahrte
Peer Frieß erklärt reichsstädtische Politik zur Zeit Kaiser Karls V.
- Der Sitzungssaal im Alten Rathaus ist ein Ort, von dem aus Lindauer Politiker seit jeher die Geschicke der Stadt gelenkt haben. Von daher hätte es keinen besseren Veranstaltungsraum als diesen für den Vortrag „Lindauer Rathaus im Krisenmodus – reichsstädtische Politik zwischen Kurfürst und Kaiser“geben können, den der Historiker und heutige Ministerialrat Peer Frieß auf Einladung des Lindauer Stadtarchivs und des Historischen Vereins vor gut 50 Interessierten gehalten hat. Ein Vortrag, der zeigte, dass gute Politik zu betreiben schon immer in der „Kunst des Möglichen“bestanden hat.
Als „besondere Auszeichnung“bezeichnete Frieß die Tatsache, dass er ausgerechnet in dem Saal seinen Vortrag halten durfte, in dem jene politische Entscheidungen getroffen wurden, die beispiellos in der Geschichte der oberschwäbischen Reichsstädte waren. Und damit auch einen Wendepunkt der frühen Neuzeit herbeiführten, wie Dietmar Schiersner, Vorstand der Gesellschaft Oberschwaben und Professor für Geschichte in Weingarten, hervor hob, als er denn rund 50 Interessierten die wissenschaftliche Bedeutung von Frieß’ Erkenntnissen erklärte und ihnen den Referenten vorstellte.
Geschichtsträchtig ist der historische Sitzungssaal allein schon deswegen, weil hier 1552 etwas passierte, was den Frieden sicherte. Denn an einem Tag im Mai jenes Jahres kehrten hierher zwei Lindauer Gesandte von ihrer Mission zurück, die ihren Ratskollegen erklärten, dass sie ihre
Bürgerrechte aufgeben würden, sollte die Politik weiterhin Entscheidungen für Krieg und gegen Frieden, allein und ohne die Bürger mit ins Boot zu holen, fällen. Am Ende sollten sich die Ratsherren der Forderung nach einer erweiterten Bürgerbeteiligung beugen und, zumindest während dieses Konflikts, die Bürger mitentscheiden lassen.
Dieser Szene vorangegangen waren allerlei politische Ereignisse, die der Referent erklärte. So war die damalige politische Situation die, dass der Kurfürst Moritz von Sachen gegen Kaiser Karl V. agierte und mit seinen Truppen in den Süden des Landes vorstieß. Das Überraschungsmoment war derart groß, dass der Kurfürst innerhalb weniger Tage die Macht in Südwestdeutschland an sich gerissen und Oberschwaben als eine Art Faustpfand genommen hatte. Während der Kaiser den Widerstand seiner Reichsstädte verlangte, erwartete der Kurfürst deren Unterstützung. Dadurch befanden sich Lindau und die anderen Reichsstädte in einem „scheinbar unlösbaren Dilemma“. Dieses, so erklärte Frieß, bestand darin, dass die Städte einerseits absolut kaisertreu waren, andererseits aber wussten, dass sie im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Kurfürsten keine Chance hätten. Dieses Dilemma stürzte sie zu diesem äußeren Konflikt auch noch in einen inneren. Anders als bislang die Forschung angenommen hat, weist Frieß anhand des Lindauer Archivmaterials nach, dass sich Lindau und die anderen Reichsstädte keinesfalls widerstandslos vom Kaiser losgesagt hatten und zu den Aufständischen übergelaufen waren. Im Gegenteil. So weigerte sich Lindau, übrigens als einzige Reichsstadt, einen Kompromiss mit dem Kurfürsten einzugehen. Auch war es Lindau, die als einzige Reichsstadt nicht kapituliert hatte. Und genau an diesem Punkt stürmen die beiden Lindauer Gesandten in den Ratssaal.
Indem Lindau in der Folge die Bürger mitreden ließ, meisterte die Stadtpolitik die innere Krise. Und das, obwohl sich die Bürger für eine Kapitulation und damit gegen die kaisertreue Politik ihrer Ratsherren entschieden. Eine Interimsregierung war die Folge. Doch letztlich löste sich bis Juli 1552 alles auf, die Reichsstädte blieben unter kaiserlicher Herrschaft, das Interim wurde wieder abgeschafft. „So gelang es den Lindauer Ratsherren den Status quo einer privilegierten Reichsstadt ebenso zu bewahren wie die Stabilität der kirchlichen Verhältnisse und des politischen Machtgefüges innerhalb der Stadt“, schloss Frieß und erklärte, dass das Besondere der Lindauer darin bestanden habe, dass sie Politik nicht „engstirnig oder dogmatisch, sondern, ganz im Sinne Bismarcks, als die Kunst des Möglichen“betrieben hätten.