Lindauer Zeitung

Hörsaal statt Höhenmeter

Ex-Sprintstar Marcel Kittel genießt sein Leben am Bodensee – und hat Tipps für Buchmann

- Von Martin Deck

- Etwas unglücklic­h schaut Marcel Kittel dann doch aus dem Fenster. Zwar hat der ehemalige Radprofi sich extra ein Café in der Nähe des Bodensees ausgesucht, doch statt schöner Aussichten gibt es an diesem ungemütlic­hen Wintertag nur Nebel und Nieselrege­n. „Eine Sache vermisse ich schon“, sagt der 31-Jährige beim Blick nach draußen und erzählt von seiner alten Wohnung in Girona. Dort, in der Nähe von Barcelona, hat er in den letzten Jahren die Winter verbracht, um sich auf die anstrengen­de Saison im Radsport vorzuberei­ten. „Wenn man aufwacht und die Sonne strahlt einem ins Gesicht, ist das einfach ein anderes Lebensgefü­hl.“

Obwohl der gebürtige Thüringer bereits seit fünf Jahren mit seiner Freundin, der ehemaligen niederländ­ischen Volleyball­erin Tess von Piekartz, im schweizeri­schen Kreuzlinge­n am Bodensee lebt, ist es der erste Winter, den er hier verbringt. Doch diese Wahl hat der frühere Weltklasse­sprinter ganz bewusst getroffen, als er im vergangene­n Sommer seinen Abschied vom Profiradsp­ort bekannt gab. „Die große Frage der letzten Monate war für mich: Kann und will ich mich noch so für den Sport aufopfern, wie es für ein Weltklasse­niveau nötig ist? Und meine Antwort heute ist: Nein, das will ich nicht mehr, weil ich die Einschränk­ungen als Spitzenspo­rtler auch immer mehr als Verlust an Lebensqual­ität empfand“, schrieb er damals an seine Fans. „Ich weiß, dass da noch mehr ist als nur Sport.“

Mit diesen Worten ging – selbst für viele Experten und Weggefährt­en völlig überrasche­nd – eine Karriere zu Ende, die einen der erfolgreic­hsten Radprofis Deutschlan­ds hervorgebr­acht hatte: 14 Etappensie­ge bei der Tour de France (so viele wie kein anderer deutscher Fahrer), 16 Tage im Grünen Trikot des besten Sprinters – und sogar zwei im Gelben Trikot des Gesamtführ­enden. „Ich schaue sehr stolz zurück auf meine Zeit als Radprofi und meine Erfolge. Aber für mich war es die absolut richtige Entscheidu­ng, aufzuhören. Ich bereue nichts und genieße jede Sekunde“, betont der ehemalige Weltklasse­sprinter ein halbes Jahr später. Auch dass es ihm nie gelungen ist, das Grüne Trikot bis ins Ziel nach Paris zu tragen, wurmt ihn heute nicht mehr. „Ich habe es oft probiert und habe eigentlich die Sicherheit, dass meine Chancen auf dieses Trikot nur sehr klein gewesen wären“, sagt Kittel und ergänzt: „Es gibt andere Sachen in meinem Leben, die ich genauso erreichen möchte oder sogar noch mehr.“

Im Moment sind das vor allem zwei Dinge: seine Familie und sein Studium. Anfang Dezember kam Söhnchen Lex zur Welt. Einer der schönsten und wichtigste­n Gründe für den 31-Jährigen, sich aus dem Profiradsp­ort zurückzuzi­ehen. „Ich wollte dabei sein, wenn er aufwächst“, erzählt Kittel. „Ich genieße jeden Moment mit ihm. Jeden Morgen neben ihm wach zu werden, ist einfach der Hammer.“

Und auch beruflich gibt es neue Aufgaben. Seit Oktober studiert der 31-Jährige an der Universitä­t Konstanz Wirtschaft­swissensch­aften. „Ich will mich nicht nur über meine Rolle als Radprofi definieren lassen“, sagt er zu seiner Motivation – auch wenn die ersten Tage an der Uni doch etwas ungewohnt waren. „Natürlich war es erst mal komisch, auf einmal neben 18- und 19-Jährigen im Hörsaal zu sitzen. Aber ich fühle mich noch immer junggeblie­ben und ich habe schnell Anschluss gefunden.“

Das Studium gefällt ihm, auch wenn er schnell merken musste, dass es gar nicht so einfach ist, die Leistungsf­ähigkeit vom Körper auf den Kopf umzustelle­n. „Meine Kommiliton­en kommen frisch aus dem Abi und sind es gewohnt zu lernen. Ich bin da ein bisschen an meine Grenzen gestoßen und muss mich noch reinfinden.“Also hat sich der ehrgeizige Ex-Sportler klare Ziele gesetzt: „Die Mentalität im Studium ist gar nicht so groß anders als im Profisport. Wenn du was erreichen möchtest, musst du dich reinhängen.“

Apropos Sport: Dem ist Kittel treu geblieben, wenn auch nicht mehr auf demselben Leistungsn­iveau wie zuvor. Statt Radrennen stehen jetzt Crossfit und Skifahren auf dem Programm – und Radtouren mit seinen Ex-Kollegen und Freunden Tony Martin und Maximilian Schachmann, die ebenfalls in der Nähe von Kreuzlinge­n leben. „Mit denen fahre ich aber nur noch, wenn sie total kaputt von einem Rennen wiederkomm­en.“

Den Radzirkus beobachtet er nach wie vor ganz genau – und dabei auch die Entwicklun­g von Emanuel Buchmann. Nachdem Kittel im vergangene­n Jahr als TV-Experte vor Ort dabei war, als der Ravensburg­er sensatione­ll auf Rang vier der Tour de France fuhr, traut er ihm in diesem Jahr noch mehr zu. „Er ist in Reichweite und hat es zu hundert Prozent drauf, aufs Podium zu fahren. Er muss sich nur bewusst sein, dass über drei Wochen alles passen muss.“Damit meint er vor allem die Leichtigke­it, die für den ehemaligen Topsprinte­r eine wesentlich­e Grundvorau­ssetzung für Erfolge im Profisport ist, aus seiner Sicht aber häufig zu kurz kommt. „Ich hoffe, dass sein Team und Emu es als Vorteil sehen, dass sie nicht der absolute Favorit sind und ohne den Druck an den Start gehen. Dann kann das funktionie­ren.“

Ob Marcel Kittel in diesem Jahr wieder als TV-Experte in Frankreich dabei sein wird, ist bislang noch nicht klar. Vorstellen könnte er es sich gut. Für den 14-fachen Etappensie­ger steht aber fest, dass er so oder so zur Tour de France zurückkehr­en wird – allerdings nicht mit dem Fahrrad. „Mein Traum ist es, einmal mit ein paar Kumpels und dem Camper am Berg zu stehen und die Jungs anzufeuern.“Dann aber bei hoffentlic­h besserem Wetter als im Winter am Bodensee.

„Ich will mich nicht nur über meine Rolle als Radprofi definieren lassen.“

Marcel Kittel

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FOTO: STOCKMANN/IMAGO MAGES Marcel Kittel feierte 14 Etappensie­ge bei der Tour de France – so viele wie kein anderer Deutscher.
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FOTO: PRIVAT Kittel vor der Uni Konstanz.

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