Unter Hausarrest
Wie Corona das Familienleben verändert, während die älteste Tochter unter Quarantäne steht – und wie merkwürdig ein Nachbar reagiert
Montag, 2. März. Als ich zum ersten Mal heftig und stoßweise niesen muss, zeigt meine Frau mit dem Finger auf mich, reißt die Augen weit auf und ruft: „Corona!“Wir lachen und die Kinder gleich mit. Auch wenn wir die Sache so ernst nehmen, dass wir uns schon seit Tagen an die Handlungsanweisungen des RobertKoch-Instituts (RKI) halten: häufiges und gründliches Händewaschen, nicht jeden, den man kennt, sofort umarmen, Händeschütteln herunterfahren, nicht aus dem Glas des anderen trinken oder dessen Besteck benutzen. Das kann ja nicht schaden. Corona, das ist an diesem Montag ein unbestimmtes Gefühl, eine kleine Unruhe vielleicht. Aber nicht das, was es knapp 24 Stunden später für uns bedeuten wird.
Aus dem Niesen wird ein Fließschnupfen. Der Hals kratzt langsam immer deutlicher. Und der Kopf ist schwer. Alles überhaupt nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit. Bis jetzt ist die ganze Familie völlig ohne Erkältung durch diesen Winter gekommen, der eigentlich keiner war. Während ich mich heute besonders früh fürs Bett fertig mache, um den Infekt so schnell wie möglich wegzuschlafen, fragt meine Frau: „Männerschnupfen?“Sie grinst, und ich verdrehe die Augen.
Dienstag, 3. März.
Es ist ein schlapper Tag mit leicht erhöhter Temperatur. Ich bewege mich zwischen Sofa und Medizinschränkchen. Der Rest der Familie ist fit. Wir, meine älteste Tochter Nora, meine jüngste Tochter Linda, meine Frau Eva und ich, nehmen ein frühes Abendbrot ein. Wir heißen übrigens alle anders und ich anonymisiere diesen Text, weil wir uns in Zeiten mit Hysterieneigung nicht irgendwelchen merkwürdigen Reaktionen anderer Leute aussetzen wollen. Ich sinke in einen unruhigen Schlaf, aus dem mich um Punkt 23.12 Uhr das klingelnde Telefon reißt. Meine Frau geht ran, im Halbschlaf meldet sie sich. Und während des Gesprächs werden ihre Augen immer größer. „Sie vergackeiern uns jetzt, oder? Sie sind wirklich vom Gesundheitsamt?“, fragt sie zwischendurch immer wieder.
Als meine Frau auflegt, meine ich fast, ihr Herz pochen hören zu können. An der Schule meiner großen Tochter gibt es einen Corona-Verdachtsfall, berichtet sie. Und Nora könnte Kontakt zu ihr gehabt haben. „14 Tage Quarantäne“, sagt meine Frau ungläubig, während ihre Augen einen glasigen Schimmer annehmen und sie das Telefon sinken lässt. Abstand halten zum eigenen Kind, das das Kuscheln noch so intensiv braucht. „Sie wird Angst haben“, sagt meine Frau und ich versuche, sie zu beschwichtigen. Es werde schon nicht so schlimm werden. Zwei Wochen seien schnell vorbei. Wir beschließen eine Familienkonferenz für den Morgen. Nora, die bis zur Nasenspitze zugedeckt im Bett liegt, weiß noch nicht, was sie erwartet. Wir gehen wieder ins Bett, wo uns nur ein ebenso unruhiger wie kurzer Halbschlaf vergönnt ist.
Mittwoch, 4. März.
Dann Noras Entsetzen am Morgen: „Was, zwei Wochen?“, Nora kämpft mit den Tränen – und verliert. Den ganzen Schulstoff nachholen? Der Theaterunterricht gestrichen? Die Übernachtungsparty bei einer Freundin, zu der sie nicht gehen wird. Für die kommenden 14 Tage wird ihr Zimmer und gelegentlich die Terrasse die ganze Welt der Elfjährigen sein. Ihre Schwester Linda reibt sich den Schlaf aus den Augen. „Und ich?“„Du hast Glück“, sage ich mit aufgesetzter Fröhlichkeit. „Du darfst in die Schule.“Jetzt füllen sich auch ihre Augen mit Tränen – aus Zorn. Es wird ein langer Morgen, der erfüllt ist von den sanften Ermahnungen an Nora, uns nicht zu nahe zu kommen. Und von dem Gezeter der Neunjährigen, die nicht einsehen kann, dass ihre Schwester zu Hause bleiben darf, während sie in die Schule muss. „Warum ich?“
Auch meine Frau und ich fragen uns, warum die Maßnahme der Quarantäne nicht für die ganze Familie gilt, wo doch dort der engste Kontakt stattgefunden hat, noch bevor die Nachricht kam, dass Nora zu Hause bleiben muss. Anruf beim Gesundheitsamt: Die Mitarbeiterin hat eine simple Erklärung und sagt: „Irgendwo müssen sie die Grenze ziehen.“Und die liegt momentan bei der sogenannten Kontaktperson ersten Grades. Und weil Nora Kontakt gehabt haben könnte, trifft diese Definition auf sie zu – auf den Rest der Familie aber nicht. Als meine Frau ihren Arbeitgeber informiert, entscheidet der nach kurzer interner Abstimmung, dass sie dem Betrieb ebenfalls zwei Wochen fernbleiben soll. „Vorsichtshalber“, heißt es aus der Firma. Nora ist indes quicklebendig, kerngesund und genießt den unverhofften Luxus ihres ersten schulfreien Tages, den sie dem Virus verdankt. Nur ich sitze im Heimbüro am Schreibtisch und kann vor Schnupfen kaum aus den Augen gucken. Dass es doch das Coronavirus sein könnte, das mir zu schaffen macht, glaube ich nicht. Und doch ist der Blick auf meine Erkältung gefühlsmäßig ein anderer als in früheren Wintern.
Beim Leeren des Briefkastens begehe ich die Unvorsichtigkeit, einem älteren Ehepaar aus der Nachbarschaft von der Quarantäne meiner Tochter zu erzählen. Ein blöder Fehler, wie sich in ein paar Stunden noch herausstellen wird.
Ich döse auf dem Bett, meine Töchter spielen mit Sicherheitsabstand „Stadt, Land, Fluss“. In unserer Familie etabliert sich ein merkwürdiges Ballett, das darauf beruht, möglichst großen Abstand zu Nora zu halten. Bestimmte Regeln sind außer Kraft: zum Beispiel das sonst zwingend vorgeschriebene Schließen des Klodeckels. Der darf jetzt offen stehen bleiben, damit wir nicht ständig mit den Händen dranmüssen.
Das Telefon klingelt. Der Nachbar vom Briefkasten ist dran. Er spricht weitschweifig über Gesundheitsgefahren im Allgemeinen und Corona im Besonderen. Wie es meiner Tochter oder uns geht, fragt er nicht. Dafür steht am Ende die Frage, was wir denn nun zu tun gedenken. Ob wir alle Nachbarn informiert hätten und die Hausverwaltung. Ich halte inne und überlege, wie ich auf diese Fragen reagieren soll. Ich erkläre schließlich, dass wir uns an die Maßgaben des Gesundheitsamtes halten, an alle Hygieneempfehlungen. Dass Nora natürlich die QuarantäneAuflage respektiert. Dass wir die Kirche im Dorf lassen müssen und es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handelt. Den möglichen Kontakt zu einem Verdachtsfall. Mehr nicht. „Aber ich werde sicher kein rot-weißes Absperrband spannen.“Das Telefonat geht zügig zu Ende mit meinem Hinweis, dass wir gewiss nicht vorhaben, jetzt in ein Hotel zu ziehen.
Meine Erkältung hat sich inzwischen von der Nase auch auf den Hals gelegt. Die Frau vom Gesundheitsamt hatte empfohlen, dass ich beim ärztlichen Bereitschaftsdienst anrufen soll. Aber die Nummer 116 117 ist derart überlastet, dass ich immer nach fünf Minuten in der Warteschleife, in der automatisch alle empfohlenen Hygienemaßnahmen wiederholt werden, rausfliege. Also telefoniere ich mit meinem Hausarzt und merke rasch, dass auch unser Gesundheitssystem an Grenzen stoßen kann. Er wisse, dass unter der Nummer 116 117 schon seit Tagen kein Durchkommen mehr sei. Er fragt mich, ob ich im Risikogebiet gewesen sei, ob ich Kontakt zu bestätigten Infizierten hatte. Ich verneine und sage, dass sich meine starke Erkältung nicht ungewöhnlich anfühlt. „Jetzt warten wir erst mal ab“, sagt der Arzt, der überzeugt ist, dass sich die Situation längst dahingehend verändert hat, auch Verdachtsfälle nicht mehr standardmäßig zu testen. „Dafür gibt es gar nicht genug Tests.“Außerdem würden selbst bestätigte Infizierte nicht mehr im Krankenhaus isoliert, sondern zu Hause.
Donnerstag, 5. März.
Der Morgen verläuft etwas friedlicher, weil meine jüngste Tochter sich in ihr Schicksal gefügt hat, als Einzige morgens das Haus zu verlassen. Alle sind gesund, bis auf mich mit meiner Erkältung. Bei den Mahlzeiten etabliert sich ein neues Bild: Alle drei Familienmitglieder sitzen möglichst weit weg von Nora. Weil der Tisch ziemlich groß ist, winkt sie ab und zu und ruft „Haaallo!“, als säße sie so weit weg, dass man sie kaum erkennen könnte.
Nora und meine Frau pauken Schulstoff, den eine Klassenkameradin per elektronischer Nachricht geschickt hat. Später spielen sie auf der Terrasse winterlich gekleidet improvisiertes Tischtennis – ein kleiner Tisch dient als Platte. Das
Telefon klingelt. Am Apparat die Betriebsärztin der Firma meiner Frau. Im Unternehmen kursierten Gerüchte, meine Tochter sei ein bestätigter Corona-Fall. „Was?“, fragt meine Frau mehrfach und fängt zu lachen an. Sie erklärt der Ärztin die Situation, wie sie wirklich ist. Meine Frau sagt nach dem Anruf: „Wirst sehen, wie die alle einen Bogen um mich machen werden, wenn die zwei Wochen vorbei sind.“Wir bereiten auch Nora darauf vor, dass sie mit seltsamen Reaktionen zu rechnen hat, wenn ihre Quarantäne aufgehoben wird. Dabei ist Nora nicht allein: Insgesamt stehen im Landkreis aus dem Umfeld zweier Schulen 65 Kinder und Erwachsene unter Quarantäne. Zwei Fälle sind bestätigt. Das Ergebnis der Person, mit der Nora Kontakt gehabt haben könnte, steht am Donnerstag noch aus.
Freitag, 6. März.
Auf die Frage, ob die Quarantäne aufgehoben werde, wenn sich herausstellt, dass Noras potenzielle Kontaktperson nicht infiziert ist, wusste die geduldige Frau vom Gesundheitsamt am Donnerstag auch keine Antwort. Immerhin: Heute soll das Ergebnis feststehen – und auch, ob sich die häusliche Quarantäne nicht doch erledigt. Im Grunde haben sich bis jetzt viele Befürchtungen, die wir anfangs hatten, nicht bestätigt. Unsere Jüngste tut sich nicht mehr so schwer damit, als Einzige in die Schule zu müssen. Nora und meine Frau gehen systematisch den verpassten Schulstoff durch. Meine Tochter telefoniert viel mit einer Freundin, die ebenfalls unter Quarantäne steht. Um nicht rammdösig zu werden, springt Nora immer wieder über die Terrasse. Wir als Familie haben recht gut in den Quarantänemodus gefunden. Freunde und Bekannte bieten uns an, uns im Zweifel zu unterstützen, für uns einzukaufen. Was allerdings nicht nötig ist, da außer Nora ja alle ganz normal raus dürfen.
Trotzdem schielen wir ständig aufs Telefon und warten auf die Mitteilung des Gesundheitsamtes. Und meine Erkältung? Heute spürbar besser. Der Schleim lässt sich abhusten, der Kopf ist nicht mehr so schwer. Ob es das Coronavirus war? Ich werde es wohl nie erfahren. Als Mann Mitte 40 gehöre ich nicht zur Gruppe mit erhöhtem Risiko. Am Ende spielt es aber auch keine Rolle, denn – so sehen es die meisten Wissenschaftler derzeit – das Virus wird sich wie die Influenza auch in den saisonalen Erreger-Cocktail einmischen.
Um 11.52 Uhr lässt das Klingeln des Telefons die Hoffnung zerplatzen, dass der Spuk schneller vorbei sein könnte als gedacht. Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes berichtet, dass die potenzielle Kontaktperson von Nora tatsächlich den Erreger trägt. Nachweis im Labor erbracht. „Die Quarantäne bleibt bestehen“, sagt sie. Sollten Symptome auftreten, solle man sich melden. Nora ist von der Nachricht nur mäßig enttäuscht. Dass man es unter Hausarrest aushalten kann, hat sie in den vergangenen Tagen gelernt. Doch bis 16. März ist es noch eine lange Zeit.