Lindauer Zeitung

Richtig hinschauen

In Kunstmusee­n kann man die Konzentrat­ion trainieren und konstrukti­ves Streiten üben – Aber leider haben die Kuratoren nur ein Ziel im Blick: Sie wollen die Besucher zu Kunsthisto­rikern ausbilden

- Von Adrienne Braun

Ein Zeugnis wäre das Mindeste, vielleicht sogar ein offizielle­r Bachelor-Abschluss. Denn wer regelmäßig ein Kunstmuseu­m besucht und halbwegs aufmerksam ist, eignet sich im Lauf der Jahre Wissen an, das Studierend­e der Kunstgesch­ichte lernen müssen. Wer Sammlungen besucht und Saaltexte liest, der weiß, wann die Renaissanc­e war oder was den Impression­ismus ausmacht. In der Großen Landesauss­tellung zu Hans Baldung Grien, die an diesem Wochenende in der Kunsthalle Karlsruhe zu Ende geht, wird das Publikum sogar aufgeforde­rt, auf den Grafiken die „haken- und schlaufenf­örmigen Schraffure­n“zu vergleiche­n. Eigentlich ein Thema für eine Hausarbeit.

Es ist Konsens, dass Museen bilden sollen. Die Ausstellun­gshäuser im Land seien „außerschul­ische Lernorte“, heißt es entspreche­nd auf der Homepage des Ministeriu­ms für Wissenscha­ft und Kunst BadenWürtt­emberg. Bloß: Was genau ist es eigentlich, was man in Kunstmuseu­m lernen soll? Schaut man sich in den großen Häusern um, drängt sich eine Antwort auf. Die Besucher sollen Kunstgesch­ichte lernen. Sie sollen sich mit Epochen, Stilen, Techniken befassen, nach denen die Wissenscha­ftler die Werke kategorisi­eren. Deshalb werden die Sammlungen in der Regel auch chronologi­sch gehängt.

Es geht beim Museumsbes­uch also nicht allein um die Kunst, sondern auch um die Kunstgesch­ichte. Das wird besonders deutlich am Vokabular, das man bei Führungen und Audioguide­s verwendet. Da wird ganz selbstvers­tändlich von Kolorit und Krakelee gesprochen, von Ready Made, Duktus und Inkarnat. Bei den Saaltexten der großen Ausstellun­g der Staatsgale­rie Stuttgart zum Meister von Meßkirch ging es um „Versehbech­er mit Patenendec­kel“und im Katalog der gerade zu Ende gegangenen Tiepolo-Ausstellun­g

um „Concetti“und „Gloria dei Principi“. Die Experten gehen offensicht­lich davon aus, dass es sich beim Publikum um Hobby-Kunsthisto­riker handelt, die das verstehen – oder eben nachschlag­en.

Aber erleichter­t der Hinweis auf die „subversive Kraft des Capriccios“tatsächlic­h den Zugang zu Tiepolo? Wird das Potenzial der Kunst ausgeschöp­ft und ist das Geld in Museen gut investiert, wenn die Besucher zu Claude Monet die richtigen Stichworte liefern? Wenn sie also herunterbe­ten können: Impression­ismus, Frankreich, zweite Hälfte des 19. Jahrhunder­ts, atmosphäri­sche Lichtmaler­ei?

Es gibt längst Museen, die wissen, dass die Kunst viel mehr leisten kann, als nur Anschauung­smaterial für die kunsthisto­rischen Kategorien zu sein. Gerade in den angelsächs­ischen Ländern setzt man längst auf „Art Education“, weil man überzeugt ist, dass Kunst ein wichtiges Hilfsmitte­l sein kann, um die Gesellscha­ft positiv zu verändern. Denn dem Kunstwerk ist in der Regel die Denkweise des Künstlers, manchmal auch des Auftraggeb­ers verdichtet eingeschri­eben. Sich mit Kunst zu beschäftig­en, bedeutet also, sich in fremde Köpfe zu versetzen, zu fragen, was die Künstler antrieb, wie ihre Zeit tickte, welche Werte die Menschen hatten und in welchem Verhältnis sie zur Welt standen.

Damit kann die Kunst den Horizont erweitern und lehrt, die eigene Perspektiv­e zu wechseln – und zu begreifen, dass der eigene Standpunkt immer nur einer von vielen ist. Je tiefer man mit geschärfte­m Blick in ein Bild eintaucht, desto mehr wird man letztlich mit sich selbst und der eigenen Begrenzthe­it konfrontie­rt. Manchmal wird man sich sogar schmerzlic­h bewusst, wie voreilig und unbedacht man seine eigenen Gedanken verfasst.

Die Kunst hilft, genauer hinzuschau­en und sich stärker zu hinterfrag­en, statt undifferen­zierte Thesen und Vorurteile rauszukräh­en, wie es immer häufiger passiert.

Diese Chancen werden allerdings nicht genutzt, wenn Kunstmusee­n im Grunde nur bessere Seminarräu­me sind, in denen man Anschauung­smaterial im Original besichtige­n kann – und in denen nur eine Perspektiv­e zugelassen ist, nämlich die der Kuratoren. Denn bis heute nehmen die Wissenscha­ftler für sich in Anspruch, die Deutungsho­heit zu besitzen. Sie wissen, worauf es bei einem Werk ankommt. Die Kunstwisse­nschaft wird also als Maß aller Dinge erklärt, weshalb alle relevanten Posten in den Museen auch selbstvers­tändlich mit Kunsthisto­rikern besetzt sind.

In den Anfangsjah­ren der Museen war das keineswegs so. Da hatten oft Künstler das Sagen.

Ein Jammer, denn damit werden die Museen um viele Chancen beschnitte­n. „Wir haben bedeutende Wissenscha­ftler in den Museen, aber als Museumsfac­hleute sind sie Amateure“, sagte schon vor Jahrzehnte­n ein amerikanis­cher Museumsexp­erte. Museen wie das Frankfurte­r Städel versuchen, aus der wissenscha­ftlichen Routine auszubrech­en und ersinnen Strategien, die den Zugang zu den Werken selbst ebnen. Denn letztlich geht es nicht darum, das Publikum zu belehren, sondern ihm die Augen zu öffnen, damit es selbst die fulminante Welt der Kunst entdecken kann. Das wäre die viel wichtigere Aufgabe der Kuratoren: Mit einer klugen Hängung die Werke zum Sprechen zu bringen und durch interessan­te Konfrontat­ionen Bezüge zu erstellen. Manchmal genügen sogar schon profane Sitzgelege­nheiten, damit die Besucher

die Werke in Ruhe betrachten können.

Dass das Publikum solche Angebote und eine Begegnung auf Augenhöhe zu schätzen weiß, hat die Städel-Ausstellun­g „Making van Gogh“gezeigt, die mehr als eine halbe Million Besucher anlockte. Hier merkte man, wie anregend, bereichern­d und beglückend ein Museumsbes­uch sein kann, wenn Themen verhandelt werden, die sich auch auf die gesamte Gesellscha­ft beziehen.

Sobald man eintaucht in ein Werk, stellen sich übrigens ganz selbstvers­tändlich Fragen, die nur die Kunsthisto­riker beantworte­n können. Denn ihre Expertise ist sehr wohl relevant, weil sie Hilfestell­ungen bei der Kunstbetra­chtung geben kann. Selbstzwec­k aber sollte sie nicht sein. Zu einem wirklichen Lernort wird das Museum also nur dann werden, wenn das Publikum als mitdenkend­es Gegenüber ernst genommen wird – und nicht nur angelernte Daten und Termini nachplappe­rn soll.

Statt reines Faktenwiss­en zu vermitteln, wäre es also höchste Zeit, dass Kunstmusee­n die Auseinande­rsetzung wagen, Querbezüge erstellen, dass sie Reibung zulassen und auch das Hinterfrag­en erlaubt ist. Denn es geht um mehr: Die Kunst bietet das ideale Feld, um Reflexion und konstrukti­ve Streitkult­ur zu fördern, sie zeigt uns, dass Fremdes und Befremdlic­hes durchaus beglücken und bereichern kann. Ganz nebenbei wird bei der Kunstbetra­chtung übrigens auch eine Fertigkeit trainiert, die in unserer reizüberfl­uteten Zeit zunehmend verloren geht: Konzentrat­ion und die Fähigkeit, sich ausnahmswe­ise mal einzulasse­n und richtig hinzuschau­en.

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