Richtig hinschauen
In Kunstmuseen kann man die Konzentration trainieren und konstruktives Streiten üben – Aber leider haben die Kuratoren nur ein Ziel im Blick: Sie wollen die Besucher zu Kunsthistorikern ausbilden
Ein Zeugnis wäre das Mindeste, vielleicht sogar ein offizieller Bachelor-Abschluss. Denn wer regelmäßig ein Kunstmuseum besucht und halbwegs aufmerksam ist, eignet sich im Lauf der Jahre Wissen an, das Studierende der Kunstgeschichte lernen müssen. Wer Sammlungen besucht und Saaltexte liest, der weiß, wann die Renaissance war oder was den Impressionismus ausmacht. In der Großen Landesausstellung zu Hans Baldung Grien, die an diesem Wochenende in der Kunsthalle Karlsruhe zu Ende geht, wird das Publikum sogar aufgefordert, auf den Grafiken die „haken- und schlaufenförmigen Schraffuren“zu vergleichen. Eigentlich ein Thema für eine Hausarbeit.
Es ist Konsens, dass Museen bilden sollen. Die Ausstellungshäuser im Land seien „außerschulische Lernorte“, heißt es entsprechend auf der Homepage des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst BadenWürttemberg. Bloß: Was genau ist es eigentlich, was man in Kunstmuseum lernen soll? Schaut man sich in den großen Häusern um, drängt sich eine Antwort auf. Die Besucher sollen Kunstgeschichte lernen. Sie sollen sich mit Epochen, Stilen, Techniken befassen, nach denen die Wissenschaftler die Werke kategorisieren. Deshalb werden die Sammlungen in der Regel auch chronologisch gehängt.
Es geht beim Museumsbesuch also nicht allein um die Kunst, sondern auch um die Kunstgeschichte. Das wird besonders deutlich am Vokabular, das man bei Führungen und Audioguides verwendet. Da wird ganz selbstverständlich von Kolorit und Krakelee gesprochen, von Ready Made, Duktus und Inkarnat. Bei den Saaltexten der großen Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart zum Meister von Meßkirch ging es um „Versehbecher mit Patenendeckel“und im Katalog der gerade zu Ende gegangenen Tiepolo-Ausstellung
um „Concetti“und „Gloria dei Principi“. Die Experten gehen offensichtlich davon aus, dass es sich beim Publikum um Hobby-Kunsthistoriker handelt, die das verstehen – oder eben nachschlagen.
Aber erleichtert der Hinweis auf die „subversive Kraft des Capriccios“tatsächlich den Zugang zu Tiepolo? Wird das Potenzial der Kunst ausgeschöpft und ist das Geld in Museen gut investiert, wenn die Besucher zu Claude Monet die richtigen Stichworte liefern? Wenn sie also herunterbeten können: Impressionismus, Frankreich, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, atmosphärische Lichtmalerei?
Es gibt längst Museen, die wissen, dass die Kunst viel mehr leisten kann, als nur Anschauungsmaterial für die kunsthistorischen Kategorien zu sein. Gerade in den angelsächsischen Ländern setzt man längst auf „Art Education“, weil man überzeugt ist, dass Kunst ein wichtiges Hilfsmittel sein kann, um die Gesellschaft positiv zu verändern. Denn dem Kunstwerk ist in der Regel die Denkweise des Künstlers, manchmal auch des Auftraggebers verdichtet eingeschrieben. Sich mit Kunst zu beschäftigen, bedeutet also, sich in fremde Köpfe zu versetzen, zu fragen, was die Künstler antrieb, wie ihre Zeit tickte, welche Werte die Menschen hatten und in welchem Verhältnis sie zur Welt standen.
Damit kann die Kunst den Horizont erweitern und lehrt, die eigene Perspektive zu wechseln – und zu begreifen, dass der eigene Standpunkt immer nur einer von vielen ist. Je tiefer man mit geschärftem Blick in ein Bild eintaucht, desto mehr wird man letztlich mit sich selbst und der eigenen Begrenztheit konfrontiert. Manchmal wird man sich sogar schmerzlich bewusst, wie voreilig und unbedacht man seine eigenen Gedanken verfasst.
Die Kunst hilft, genauer hinzuschauen und sich stärker zu hinterfragen, statt undifferenzierte Thesen und Vorurteile rauszukrähen, wie es immer häufiger passiert.
Diese Chancen werden allerdings nicht genutzt, wenn Kunstmuseen im Grunde nur bessere Seminarräume sind, in denen man Anschauungsmaterial im Original besichtigen kann – und in denen nur eine Perspektive zugelassen ist, nämlich die der Kuratoren. Denn bis heute nehmen die Wissenschaftler für sich in Anspruch, die Deutungshoheit zu besitzen. Sie wissen, worauf es bei einem Werk ankommt. Die Kunstwissenschaft wird also als Maß aller Dinge erklärt, weshalb alle relevanten Posten in den Museen auch selbstverständlich mit Kunsthistorikern besetzt sind.
In den Anfangsjahren der Museen war das keineswegs so. Da hatten oft Künstler das Sagen.
Ein Jammer, denn damit werden die Museen um viele Chancen beschnitten. „Wir haben bedeutende Wissenschaftler in den Museen, aber als Museumsfachleute sind sie Amateure“, sagte schon vor Jahrzehnten ein amerikanischer Museumsexperte. Museen wie das Frankfurter Städel versuchen, aus der wissenschaftlichen Routine auszubrechen und ersinnen Strategien, die den Zugang zu den Werken selbst ebnen. Denn letztlich geht es nicht darum, das Publikum zu belehren, sondern ihm die Augen zu öffnen, damit es selbst die fulminante Welt der Kunst entdecken kann. Das wäre die viel wichtigere Aufgabe der Kuratoren: Mit einer klugen Hängung die Werke zum Sprechen zu bringen und durch interessante Konfrontationen Bezüge zu erstellen. Manchmal genügen sogar schon profane Sitzgelegenheiten, damit die Besucher
die Werke in Ruhe betrachten können.
Dass das Publikum solche Angebote und eine Begegnung auf Augenhöhe zu schätzen weiß, hat die Städel-Ausstellung „Making van Gogh“gezeigt, die mehr als eine halbe Million Besucher anlockte. Hier merkte man, wie anregend, bereichernd und beglückend ein Museumsbesuch sein kann, wenn Themen verhandelt werden, die sich auch auf die gesamte Gesellschaft beziehen.
Sobald man eintaucht in ein Werk, stellen sich übrigens ganz selbstverständlich Fragen, die nur die Kunsthistoriker beantworten können. Denn ihre Expertise ist sehr wohl relevant, weil sie Hilfestellungen bei der Kunstbetrachtung geben kann. Selbstzweck aber sollte sie nicht sein. Zu einem wirklichen Lernort wird das Museum also nur dann werden, wenn das Publikum als mitdenkendes Gegenüber ernst genommen wird – und nicht nur angelernte Daten und Termini nachplappern soll.
Statt reines Faktenwissen zu vermitteln, wäre es also höchste Zeit, dass Kunstmuseen die Auseinandersetzung wagen, Querbezüge erstellen, dass sie Reibung zulassen und auch das Hinterfragen erlaubt ist. Denn es geht um mehr: Die Kunst bietet das ideale Feld, um Reflexion und konstruktive Streitkultur zu fördern, sie zeigt uns, dass Fremdes und Befremdliches durchaus beglücken und bereichern kann. Ganz nebenbei wird bei der Kunstbetrachtung übrigens auch eine Fertigkeit trainiert, die in unserer reizüberfluteten Zeit zunehmend verloren geht: Konzentration und die Fähigkeit, sich ausnahmsweise mal einzulassen und richtig hinzuschauen.