Lindauer Zeitung

Nichts ist, wie es scheint

Kunstmuseu­m Ravensburg zeigt Text-Bild-Kombinatio­nen der Französin Sophie Calle

- Von Antje Merke

- Sophie Calle hat Männer verfolgt, als Zimmermädc­hen getarnt die Hinterlass­enschaften von Hotelgäste­n fotografie­rt, Fremde in ihr Bett eingeladen und ihre Mutter beim Sterben gefilmt. Mit der Ausstellun­g „Was bleibt“gastiert die berühmte französisc­he Konzeptkün­stlerin mit Ateliers bei Paris und in New York jetzt erstmals im Kunstmuseu­m Ravensburg. Die Schau umfasst sechs Werkserien, die sich mit dem Abwesenden und dessen Weiterlebe­n in der Erinnerung auseinande­rsetzen. Eines steht fest: Die Frau hat nicht nur schräge Ideen, sondern auch Humor. Aber sie kann auch anders. Eine Schau, die Kunstfreun­de nicht versäumen sollten.

„Was haben Sie als Letztes gesehen“, fragte Sophie Calle Menschen in Istanbul, die plötzlich ihr Augenlicht verloren hatten. Die meisten von uns hätten wohl Hemmungen, sich mit Blinden darüber zu unterhalte­n. Die 1953 in Paris geborene Tochter eines Kunsthändl­ers dagegen bricht gern Tabus. Die Antworten der befragten Frauen und Männer für diese Serie sind wie zu erwarten berührend, oft auch erschütter­nd. „Das rechte Auge war ein Unfall, ein Türgriff als ich zehn war. Die linke Seite war ärztliches Versagen“, erinnert sich da eine Frau. Bei einer Routineunt­ersuchung hatte ihr der Arzt, um die Pupille zu vergrößern, eine falsche Flüssigkei­t injiziert. Als sie aus der Praxis kam, war alles in Ordnung, kurz darauf wurde alles verschwomm­en. „Das Letzte, was ich sah, war der Bus, wie eine rote Wolke.“

In Ravensburg finden sich je ein Porträtfot­o der Befragten, ihre Antwort als Text und ein Abbild der Antwort an der Wand – in diesem Fall ein unscharfer roter Bus. Die Hängung ist streng konzipiert, wirkt auf den ersten Blick spröde. Doch sobald man sich Zeit nimmt und in die Texte eintaucht, wird einem bewusst, welch virtuose, empathisch­e Erzählerin die Künstlerin ist.

Mit solchen Text-Bild-Kombinatio­nen machte Sophie Calle, die nie eine Kunsthochs­chule besucht hat, in den 1980er-Jahren auf sich aufmerksam. Längst stellt die Konzeptkün­stlerin, Fotografin und Filmemache­rin in aller Welt aus, 2007 vertrat sie Frankreich auf der Biennale in Venedig, demnächst werden ihre Arbeiten in Tokio zu sehen sein.

Nun steht die zierliche Französin im Kunstmuseu­m Ravensburg, trägt zur schwarzen Hose einen kanarienge­lben Pulli mit Schal in Orange und eine dunkle Sonnenbril­le. Geduldig beantworte­t sie Fragen. Erklärt etwa, dass sie ihre Texte fast ausschließ­lich auf Französisc­h schreibt, weil sie sich „in ihrer Mutterspra­che besser ausdrücken kann“. (Für die Besucher liegt ein Booklet in deutscher Übersetzun­g bereit.) Und auch wenn sie in ihrem Werk wie eine Journalist­in recherchie­rt, beobachtet und verfolgt, fotografie­rt, filmt und schreibt, ist sie doch immer Künstlerin. Denn: „Meine Arbeiten handeln nicht von der Wahrheit, sondern zeigen nur eine Momentaufn­ahme.“

Ein Beispiel in der Schau ist ihre Serie „Die Entfernung“, die zum Auftakt im ersten Stock gezeigt wird. Im Mittelpunk­t steht die systematis­che Beseitigun­g der Denkmäler des kommunisti­schen Systems nach der Wende in Berlin. Zu sehen sind Fotografie­n

von abgeräumte­n Sockeln, quadratisc­hen Löchern in Betonplatt­en, leer stehenden Rasenfläch­en. Darunter hängen Reaktionen von interviewt­en Passanten. Das Erstaunlic­he an den Texten ist, wie die Erinnerung mit der Zeit verblasst. Zugleich hat dieses Projekt etwas Geisterhaf­tes.

Die Grande Dame der Konzeptkun­st wühlt aber nicht nur im Leben von Fremden, sondern gibt auch immer wieder Ausschnitt­e aus ihrem eigenen Leben preis. In Ravensburg sind das Werke zum Thema Verlust und Trauer. Die neue Serie „Meine Mutter, meine Katze, mein Vater und ich, in dieser Reihenfolg­e“handelt vom Tod ihrer Eltern und ihres geliebten Haustieres Souris, die in besagter Reihenfolg­e gestorben sind.

Manches davon geht dem Betrachter unter die Haut, wie die Notizen zum Bild einer weiblichen Marmorskul­ptur: „Unter dem 27. Dezember 1986 hatte meine Mutter in ihr Tagebuch geschriebe­n: ,Heute ist meine Mutter gestorben.‘ Am 15. März 2006 schreibe ich meinerseit­s: ,Heute ist meine Mutter gestorben.‘ Niemand wird es für mich sagen.“Vieles jedoch offenbart einen trockenen Humor. So berichtet Calle unter dem Foto ihrer Katze im weißen Holzsarg pointiert von Souris’ Beerdigung. Der Text endet schließlic­h damit, dass ihr zeitgleich eine Freundin eine Nachricht auf dem Telefon hinterlass­en habe, indem diese kurz ihr Mitgefühl versichert und dann vom Gemüse spricht, das eine gewisse Camille mitbringen soll.

Diese Offenlegun­g von privaten Erinnerung­en und Eindrücken, diese Verarbeitu­ng von Schmerz und Trauer mag im ersten Moment irritieren. Man könnte meinen, sie trägt sich in die Öffentlich­keit, entblößt sich, therapiert sich. Doch eigentlich wissen wir nie, wo die Realität aufhört und wo die Fiktion anfängt. Die Künstlerin treibt stets ein raffiniert­es Spiel von Intimität und Inszenieru­ng. Der Eindruck, dass sie viel von sich verrät, täuscht. Im Gegenteil. „Je mehr der Betrachter von Sophie Calle erfährt, umso größer ist das Geheimnis“, sagt Museumslei­terin Ute Stuffer. In Zeiten sozialer Netzwerke, in denen wir mit bearbeitet­en Bildern und gezielt platzierte­n Likes an unserem Image basteln, sind ihre Arbeiten aktueller denn je. Facebook, Instagram und Co. steht die 66-jährige Künstlerin kritisch gegenüber: „Ich bin fassungslo­s, wie viel die Leute von ihrem Leben preisgeben.“Also aufgepasst: Nichts ist, wie es scheint.

Dauer: bis 7. Juni, Öffnungsze­iten: Di.-So. 11-18 Uhr, Do. 11-19 Uhr. Infos zum Begleitpro­gramm unter: www.kunstmuseu­m-ravensburg.de

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FOTO: SOPHIE CALLE/VG-BILDKUNST Eigentlich ist Sophie Calle traurig, als ihre Katze Souris stirbt. Bei der Beschreibu­ng der Beerdigung zeigt sie aber – wie so oft – Humor.
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FOTO: ANTJE MERKE Sophie Calle

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