Trauer im Verborgenen
Ein Suizid führt bei Angehörigen oft zu Scham, Schuldgefühlen und Schweigen – Eine Veranstaltungsreihe in Wangen will an dem Tabu rütteln
- Jener Tag vor neun Jahren wird Birgit Rathgeb-Schmitt immer im Gedächtnis bleiben. Weil damals die Zeit scheinbar zum Stillstand kam und ihre inneren Koordinaten, die dem Dasein sonst Halt geben, an Gültigkeit und Kraft verloren. „Es war ein Samstagmorgen“, erinnert sie sich, „und meine Mutter rief an.“Mit der Nachricht, dass sich der Bruder von Birgit Rathgeb-Schmitt das Leben genommen hat. Im Alter von 42 Jahren, an seinem Geburtstag. Engagiert im Ortschaftsrat und für den Umweltschutz, verheiratet und Vater von drei Kindern, der jüngste Sohn war gerade in die Grundschule gekommen. „Nichts hatte darauf hingedeutet“, sagt die heute 53-Jährige. Und nichts sollte von diesem Tag an so sein wie vorher.
„Das zieht einem den Boden unter den Füßen weg“, sagt Rathgeb-Schmitt, die Nachricht vom Tod des Bruders sei damals „ein Schlag“gewesen. Dessen Wirkung traf auch andere, gibt es doch drei weitere Brüder samt Nichten und Neffen. Auch die Frau des Verstorbenen hat vier Geschwister. Eine Großfamilie stand unter Schock. Dazu kamen Freunde, Nachbarn, Bekannte, Arbeitskollegen, die Bürger der Gemeinde. Der Suizid eines einzelnen Menschen zieht Kreise. Und die können sehr groß sein.
Alle 52 Minuten nimmt sich statistisch gesehen ein Mensch in Deutschland das Leben. Womit hierzulande mehr Leute durch Suizid sterben als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Und die Betroffenen empfinden – je nach Gemüt und Nähe zu dem Verstorbenen – Ohnmacht, Wut, Trauer, Leere und Verzweiflung. Nicht wenige über viele Jahre. Und trotzdem redet kaum jemand über eine Selbsttötung.
„Gegen eine Mauer des Schweigens. Suizid – ein doppeltes Tabu“, heißt eine Informationsausstellung in Wangen. Organisiert wurde sie von Rathgeb-Schmitt in ihrer Funktion als katholische Schuldekanin, die das Thema in den Unterricht bringen will, sowie Karin Berhalter, Trauerbegleiterin beim Dekanat Allgäu-Oberschwaben. Doppeltes Tabu, denn schaut der Mensch schon widerstrebend auf den Tod, macht ihn der Suizid sprach- und hilflos. „Nach einem Suizid fühlen sich Hinterbliebene oft noch alleingelassener und stigmatisierter als bei einem natürlichen Tod“, bestätigt Berhalter. Sie spricht deshalb von einer „erschwerten Trauer“. Erschwert, weil die Selbsttötung ohnmächtig macht und viele Fragen aufwirft.
Die Autorin Freya von Stülpnagel weiß um dieses Verstummen. Sie hat einst ihren Sohn Benny verloren, der sich im Alter von 18 Jahren das Leben nahm. „Damals habe ich gedacht: Ich sterbe gleich mit“, sagt sie bei der Auftaktveranstaltung in der Wangener Stadtbücherei. Das Geschehene sei so ungeheuerlich und unbegreiflich. „Wir können es nicht denken“, sagt von Stülpnagel. „Der sinnhafte Bezug zum Leben ist zerstört.“Zumindest für den Moment, denn: „Es gibt einen Weg, mit diesem schweren Schicksal zu leben.“So entschloss sie sich mit ihrer Familie für einen ehrlichen Umgang mit dem Suizid in der Öffentlichkeit. Und war über manche Reaktion überrascht. „Plötzlich kamen Leute zu mir und haben gesagt: ,Mein Vater ist gar nicht am Herzinfarkt gestorben.‘ ,Mein Bruder ist nicht ertrunken.‘ ,Die Großmutter kam nicht bei einem Unfall um.‘“Diese Menschen hatten sich das Leben genommen – und die Angehörigen nun den Mut gefunden, sich zu offenbaren. Unterstellungen gab es trotzdem.
Benny, hieß es beispielsweise, habe Drogen genommen. Auch Theresa Enke, die Witwe des Nationaltorhüters Robert Enke, berichtet, wie sie nach dem Suizid ihres Mannes im Jahr 2009 mit solchen Reaktionen konfrontiert war. In der Ehe ging es nicht gut, meinten Leute, oder das Paar habe einen schlechten Lebensstil gepflegt. Dabei, so Experten, gehe es vor allem um den Versuch, mit der Furcht, die ein Suizid auslöst, umzugehen. Eine Erklärung zu finden, die das eigene Ich schützt, die einem selber signalisiert: „Mir kann so etwas nicht passieren.“Dabei ist Suizid nicht ansteckend. Dahinter verbirgt sich vielmehr in 90 Prozent der Fälle ein psychisches Leiden, eine Depression. „Depression ist eine Krankheit, die zum Tod führen kann“, sagt von Stülpnagel, sie sei der „Infarkt der Seele“. Der allerdings heilbar ist. Und worüber man sprechen sollte.
Birgit Rathgeb-Schmitt und ihre Familie entschieden sich damals ebenfalls für einen offensiven Umgang mit dem Suizid des Bruders. In der Todesanzeige stand daher: „Das Band des Lebens hast du abgerissen
– sprachlos und traurig bleiben wir zurück.“Im Text drückte die Familie aber auch ihre christliche Hoffnung aus, dass der Bruder, unabhängig von den Umständen seines Todes, nun Geborgenheit und Frieden gefunden hat. Keine Selbstverständlichkeit, in früheren Zeiten sowieso nicht.
Die Kirche wendete lange das Gebot „Du sollst nicht töten“auch auf den Suizid an. „Der christliche Glaube versteht das Leben als Gabe Gottes“, sagt der Theologe Bruno Schmid, Professor i. R. der PH Weingarten. „Daraus folgert er den Wert und die Unersetzbarkeit jedes menschlichen Lebens.“Die katholische Tradition stützte sich dabei lange auf Thomas von Aquin, der festlegte: Der Suizid ist eine Handlung gegen die von Gott wohlgeordnete Natur, er ist ein Unrecht gegen die Gemeinschaft, er ist ein Eingriff in das Herrschaftsrecht Gottes. Und damit eine schwere Sünde.
Diese Haltung hat die Deutsche Bischofskonferenz inzwischen revidiert. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem Rat der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) hieß es 1989, dass es viele Gründe geben kann, die zu einem solchen Schritt führen, aber keinem Menschen stehe „darüber von außen ein Urteil zu“. Vielmehr sei eine Toleranz „über das Verstehen seiner Tat hinaus gefordert“. Die Verweigerung einer christlichen Trauerfeier nach einem Suizid gehört heute zur Ausnahme. „Für die Angehörigen von Menschen, die Suizid begehen, ist es befreiend, dass die Kirchenleitung diese inzwischen nicht mehr verurteilt, sondern ihnen Verständnis entgegenbringt“, sagt Schmid. „Es erleichtert ihnen, mit der für sie belastenden Tat zu leben.“
Was ohnehin schwer genug ist. Werden sie doch geplagt von Vorwürfen und Schuldgefühlen. Eine Betroffene sagte einmal: „Nach dem Suizid meines Mannes fühlte ich mich als Angeklagte. Ich klagte mich auch selbst an. Es gab aber keinen Richter. Keine Verurteilung. Keinen Freispruch.“Und oft gibt es auch keine Erklärung.
Steht doch über allem die Frage: Warum? Warum habe ich nichts bemerkt? Warum hat er nicht an die Kinder gedacht? Warum konnte ich es nicht verhindern? Und warum wollte er nicht mehr leben? Das Schlimmste sei, sagt von Stülpnagel, diesen Zweifeln und der Trauer keinen Ausdruck zu geben. Die dann zermürbend und zersetzend auf das Innerste wirken. „Wir heilen nur, wenn wir darüber sprechen“, sagt von Stülpnagel. In der Familie oder mit Freunden, mit Therapeuten, Seelsorgern oder in Selbsthilfegruppen.
Für Rathgeb-Schmitt waren diese Anlaufstellen existenziell. Verstarb doch nur drei Jahre nach dem Bruder ihr Ehemann an einer schweren Krankheit. Sie lernte mit Verlust und Schmerz umzugehen, diese als Teil ihrer Geschichte zu begreifen. „Die Trauer bleibt, aber heute bin ich dankbar“, sagt Rathgeb-Schmitt. Dankbar für ihr Dasein. Warum ihr Bruder damals diesen Weg einschlug, darauf hat sie nie eine Antwort gefunden. Aber sie hat gelernt, mit dieser Leerstelle zu leben.