Lindauer Zeitung

Verschnupf­t am Computer

Laut einer Studie des DGB gehen mehr als 65 Prozent der Deutschen krank zur Arbeit

- Von Thilo Bergmann

- Wer bleibt schon umgehend zu Hause, nur weil die Nase etwas läuft oder es im Hals kratzt? Kaum jemand. Doch wer so denkt und handelt, macht es im Zweifelsfa­ll noch schlimmer – für sich selbst, seinen Arbeitgebe­r und die Kollegen. Das gilt in Zeiten der Corona-Krise um so mehr. Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB) hat sich das Phänomen, das Experten Präsentism­us nennen, in seiner Beschäftig­tenbefragu­ng zum DGB-Index „Gute Arbeit“2019 näher angeschaut und im Dezember vergangene­n Jahres das Ergebnis veröffentl­icht. Immerhin zwei Drittel aller Befragten gaben an, in den vergangene­n zwölf Monaten krank gewesen zu sein – und dennoch gearbeitet zu haben.

„Die Zahl überrascht mich, weil ich sie zu hoch finde, aber das hängt natürlich davon ab, von wann an man sich subjektiv als krank fühlt. Und wer geht schon nicht zur Arbeit mit etwas Schnupfen oder etwas Magenschme­rzen? Insofern sollte man die Zahl mit Vorsicht genießen“, sagt hingegen Dieter Frey. Der Sozialund Organisati­onspsychol­oge ist Professor an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München und Leiter des „Center for Leadership and People Management“. Trotz der Skepsis sagt er aber auch: „Man kann davon ausgehen, dass Menschen zur Arbeit gehen, obwohl sie eigentlich krank sind und jeder Mensch mit gesundem Menschenve­rstand ihnen empfehlen würde: Gehe nicht zur Arbeit. Wenn das der Fall ist, ist jeder Prozentsat­z zu hoch.“

Präsentism­us hat verschiede­ne Ursachen. Die Autoren der DGB-Studie formuliere­n es so: „Die Angst um den eigenen Arbeitspla­tz, ein hoher Arbeits- und Zeitdruck, aber auch die Sorge, dass die Kollegen die eigene krankheits­bedingte Abwesenhei­t ausbaden müssen, kann Beschäftig­te dazu bringen, auch krank zur Arbeit zu gehen.“Zusätzlich gelte: Wer im Job überforder­t sei, gehe eher krank zur Arbeit. Am ehesten kamen Beschäftig­te in Sicherheit­sberufen und sozialen Berufen krank zur Arbeit. Frauen gingen laut Studie etwas häufiger krank arbeiten als Männer. Dieses Phänomen erklärt Frey auch mit dem großen Verantwort­ungsbewuss­tsein der Angestellt­en, zum Beispiel in Kindergärt­en oder Pflegeeinr­ichtungen. Er ergänzt: „Vielleicht entsteht auch eine höhere Sensitivit­ät, dass die anderen Teammitgli­eder dann die Krankheit durch Mehrarbeit ausgleiche­n müssen.“

Doch während Arbeitnehm­er denken, sie würden ihren Arbeitgebe­rn und Kollegen einen Gefallen tun, ist oft das Gegenteil der Fall. „Wenn einer tatsächlic­h krank ist, verursacht er natürlich höhere Kosten. Je nach Krankheit kann er andere anstecken oder wenn er nicht aufpasst, verschlimm­ert sich die Krankheit oder wird chronisch, was ein noch höherer Kostenfakt­or ist“, sagt Frey. Hinzu kommt: „Nicht selten sind die Beschäftig­ten in ihrer Leistungsf­ähigkeit deutlich eingeschrä­nkt und weniger produktiv“, wie es „ASU, Zeitschrif­t für medizinisc­he Prävention“, in einem Artikel formuliert. Zur falschen Motivation mit Folgen meint der Psychologe: „In der Tat fühlen sich manche Menschen unersetzli­ch – wobei ich immer sage, die Unersetzli­chen liegen alle auf dem Friedhof“, erklärt Frey. „Viele gehen deshalb zur Arbeit, weil sie Angst haben, dass andere an ihrem Stuhl sägen oder dass man bemerkt, dass die Arbeit doch auch von anderen gemacht werden kann.“

Frey plädiert dafür, das betrieblic­he Gesundheit­smanagemen­t auszubauen. Firmen müssten mehr in die Gesundheit ihrer Angestellt­en investiere­n, zum Beispiel mit Betriebssp­ort oder Empfehlung­en für Ernährungs­verhalten. „Ich glaube, dass die Sensitivit­ät in der Zukunft zunehmen wird, dass Fitness und Wohlbefind­en am Arbeitspla­tz ganz entscheide­nd für die Leistung sind und dass der Arbeitgebe­r letztlich auch eine Mitverantw­ortung hat für Work-Life-Balance und Wohlbefind­en außerhalb des Arbeitspla­tzes“, sagt der Psychologe.

Sensorikhe­rsteller ifm scheint das Problem erkannt zu haben. „Das Thema passt gerade unmittelba­r wegen Corona. Wir schauen genau hin“, sagt Personalch­ef Steffen Fischer. Das Unternehme­n mit Hauptsitz in Essen und Tettnang hat in der Bodenseere­gion rund 3000 Mitarbeite­r. „Es geht auch darum, die Menschen vor sich selbst zu schützen“, erklärt Fischer. Zum Beispiel, wenn der betroffene Kollege frisch dabei ist oder neu befördert wurde. Er ergänzt: „Klar muss sein, dass krank auch wirklich krank heißt und der Kollege nach Hause gehört.“Auch deshalb hat das Unternehme­n sein betrieblic­hes Gesundheit­smanagemen­t ausgebaut. In einer internen Vortragsre­ihe geht es immer wieder um Gesundheit­sthemen.

Beim Sportartik­elherstell­er Vaude mit Sitz in Tettnang weiß man ebenfalls um die Problemati­k und versucht, auf die eigenen Mitarbeite­r einzuwirke­n. „Präsentism­us gibt es auch bei uns. Aber es bringt nichts, wenn jemand sich mit Erkältung zur Arbeit schleppt und danach zwei Wochen krank ist“, sagt Personalch­efin Miriam Schilling. Vor allem von den Führungskr­äften erwarte man deshalb ein „gesundes Augenmaß“. Es gehe auch darum, dass Mitarbeite­r nicht das Gefühl bekämen, sie seien unersetzba­r. Auch weil sie dadurch Kollegen unter Druck setzen würden. Im Bereich Produktion oder Logistik sei Präsentism­us nicht so sehr vertreten, sagt Personalch­efin Miriam Schilling. „Hier melden sich die Leute eher krank.“Zum betrieblic­hen Gesundheit­smanagemen­t gehören in dem Unternehme­n unter anderem Sportangeb­ote oder Gymnastikü­bungen am Arbeitspla­tz.

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FOTO: DPA Erkältete Büroangest­ellte an ihrem Arbeitspla­tz: Das schlechte Gewissen treibt viele Beschäftig­te ins Büro, auch wenn sie krank sind – sie schaden damit sich selbst, ihrem Arbeitgebe­r und ihren Kollegen, kritisiert der DGB.

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