Leipziger Buchpreis für Lutz Seiler
Veranstalter verkünden die Preisträger der abgesagten Buchmesse übers Radio
- Jetzt hat er ihn also! Schon 2010 war Lutz Seiler mit seinem Erzählband „Die Zeitwaage“für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Mit seinem aktuellen Roman „Stern 111“hat es jetzt endlich geklappt. Die Leipziger Buchmesse wurde Corona-bedingt abgesagt, doch die renommierten Literaturpreise wurden trotzdem vergeben. In der Kategorie Sachbuch wurde Bettina Hitzer für ihr Werk „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ausgezeichnet, der Preis für die beste Übersetzung ging an Pieke Biermann für ihre Übertragung des Werks „Oreo“von Fran Ross aus dem amerikanischen Englisch.
„Dieser Roman leuchtet auf jeder Seite“, so begründete die Jury ihre Entscheidung für Lutz Seilers „Stern 111“. Nach Ingeborg-Bachmann-Preis (2007) und Deutschem Buchpreis (2014) hat der in Wilhelmshorst und Stockholm lebende Lutz Seiler jetzt also das Triple geschafft. Seiler setzte sich in der Belletristik-Sparte gegen die Autoren Verena Güntner („Power“), Maren Kames („Luna Luna“), Leif Randt („Allegro Pastell“) und Ingo Schulze („Die rechtschaffenen Mörder“) durch. „Unsere Eltern sollen es einmal besser haben. Etwas stimmte nicht mit diesem Satz“, schreibt Lutz Seiler in seinem ausgezeichneten Roman, in dem er mit einer untergründigen Ironie von den wilden Nachwendejahren erzählt, die für diesen Schriftsteller bisher eher untypisch war. Als die Mauer fällt bekommt die Hauptfigur Carl Bischoff ein aufgeregtes Telegramm aus Gera: „wir brauchen hilfe komm doch bitte sofort deine eltern.“Gleich macht sich der Mittzwanziger auf den Weg, um daheim angekommen dann zu erfahren, dass seine Eltern in den Westen fliehen wollen. Jetzt. Nachdem die Grenze offen ist.
Carl versteht die Welt nicht mehr. Seine sparsamen Eltern lassen alles zurück, um etwas zu erleben, „etwas, das noch einmal alles sprengen konnte (und sprengte), obwohl der Plan für den Rest des Lebens doch längst ausgearbeitet gewesen war.“Mit dem Rucksack „nehmen sie den Westen in Angriff. Wie eine ihrer Wandertouren“. Ins Notaufnahmelager in Gießen wollen sie und es danach „getrennt versuchen, um doppelte Chancen zu haben“. Carl soll als „Nachhut“das Haus in Gera hüten. Doch daraus wird nichts. Mit dem alten Shiguli des Vaters fährt er nach Berlin, um sich dort als Dichter zu etablieren. Von der Hausbesetzerszene der Oranienburger Straße wird er aufgenommen und ist Mitglied einer „Aguerilla“, die alle Keller miteinander verbinden will und im Untergrund die Kneipe „Assel“betreibt.
In zwei Handlungssträngen erzählt der 1963 selbst in Gera geborene Lutz Seiler von der Odyssee der Eltern im Westen und dem Leben Carls als kellnernder Dichter, der in Berlin seine Jugendliebe Effi wiedertrifft und sich prompt noch einmal in sie verliebt. Schon in seiner Kurzgeschichte „Die Zeitwaage“(2009) schrieb Seiler über seine Jahre in Berlin und die Initiation eines Schriftstellers. Auch damals ließ er auf eindrucksvolle Weise den privaten und gesellschaftlichen Neuanfang nach 1989 zusammenfallen, ohne, dass es irgendwie aufgesetzt gewirkt hätte. Das ist auch im neuen Buch so, das Berlin-, Wende- und Künstlerroman in einem ist.
Seine Sprache ist nicht mehr ganz so gesättigt mit Bildern wie es in den frühen Texten der Fall war. Aber es gibt immer noch genug Metaphern und surreale Szenen, die Seilers Ursprünge als Dichter („pech & blende“, 2000) offenbaren und seinen Sound ausmachen. Seinen schillernden Porträts der Autonomen rund ums Tacheles und in der Rykestraße merkt man an, dass er die Szene kennt. Selbst Edgar Bendler und „Kruso“aus seinem gleichnamigen Bestseller, für den Seiler 2014 den Deutschen Buchpreis erhielt, haben einen kurzen Gastauftritt. Trotzdem ist das Buch nicht die Fortsetzung seines Hiddensee-Romans. Ein großer Roman ist es allemal.
Zur Ehrung von Hitzers Werk „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“erklärte der Juryvorsitzende Jens Bisky, die Autorin habe die Geschichte der Erkrankung so umfassend nachgezeichnet wie es bisher nicht geschehen sei. Die Historikerin vertrete einen „fruchtbaren Ansatz der Geschichtswissenschaft“und behandle intensiv die Frage, wie sich der Umgang mit unseren Gefühlen verändert hat. Zum Übersetzungspreis erklärte Juror Tobias Lehmkuhl, Biermann habe die „enorme Herausforderung“der Übertragung von „Oreo“, das zahlreiche jüdische und Slangausdrücke enthalte, „bravourös gelöst“. Die Übersetzerin habe das halsbrecherische Tempo des Originals „in ein Deutsch gebracht, das eine solch schrill-schöne Vielgestaltigkeit auf so engem Raum selten gesehen hat“.