Der Dunkelziffer auf der Spur
Bayern will die Forschung zum bedrohlichen Virus stärker bündeln – Im Freistaat startet jetzt eine Studie von bundesweiter Bedeutung
(dpa) - Ein Teelöffel Blut soll helfen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Um mehr zu lernen über das neuartige Virus, das die Welt seit Monaten in Atem hält, starten bayerische Mediziner und Wissenschaftler eine groß angelegte Studie. In dieser Woche sollen Blutproben von Menschen aus 3000 zufällig ausgewählten Münchner Haushalten genommen werden, um das Blut auf Antikörper zu testen.
Damit die potenziellen Probanden sich auch sicher sein können, dass es sich um echte Wissenschaftler handelt, die ihnen Blut abnehmen wollen, werden sie von Polizisten begleitet. Das Ziel des Ganzen: herauszufinden, wie das Virus sich tatsächlich in der Gesellschaft verbreitet hat – und wie hoch die Dunkelziffer ist.
Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen einem und zehn Prozent der Bevölkerung bereits infiziert sein könnten, weil viele Infektionen völlig ohne Symptome verlaufen. Die Untersuchung soll mehr
Klarheit bringen darüber „wie weit der Weg noch ist“, sagt Michael Hölscher, Leiter der Infektions- und Tropenmedizin am Klinikum der Universität München.
Denn anders als im nordrheinwestfälischen Landkreis Heinsberg, wo die meisten Infektionen auf eine Karnevalssitzung zurückgehen, oder im Landkreis Tirschenreuth in der Oberpfalz, wo ein Starkbierfest als Wurzel allen Übels gilt, gebe es in München viele individuelle Infektionen. Die „Dynamik des Infektionsgeschehens“in der bayerischen Landeshauptstadt sei gewissermaßen „stellvertretend“, sagt Hölscher. Eine Blaupause für ganz Bayern oder sogar ganz Deutschland. Er gehe davon aus, dass die Ergebnisse der Studie für die Erforschung der Krankheit in ganz Deutschland nutzbar seien, sagt Hölscher.
Pro Probe müssten nur drei Milliliter Blut abgegeben werden. Das Blut werde dann auf Antikörper getestet. Hat ein Mensch Antikörper gegen Sars-CoV-2 im Blut, ist oder war er von einer Infektion betroffen. Zwingend notwendig für diese Studie
sind funktionierende AntikörperTests, wie sie derzeit am Münchner Klinikum Rechts der Isar in den Startlöchern stehen.
Doch das am Freitag vorgestellte neue Projekt ist nur die Spitze des Eisbergs. In der Wissenschaft ist es wie beim Rest der Gesellschaft auch: Es gibt kaum noch ein anderes Thema
als Corona. In Bayern befassen Forscher sich inzwischen landauf landab mit Sars-CoV-2 und der Lungenkrankheit Covid-19, die das Virus auslösen kann.
Einige Beispiele: Das Deutsche Zentrum für Herzinsuffizienz an der Uniklinik Würzburg untersucht nach Angaben des bayerischen Wissenschaftsministeriums
derzeit in einer Studie, wie Patienten mit einem schwachen Herzen auf die Infektion reagieren. Insgesamt 22 000 Patienten sollen untersucht werden.
An der Uniklinik Regensburg werden beispielsweise Testverfahren auf Corona entwickelt und mögliche Therapieformen untersucht. In Erlangen laufen Impfstoff-Forschungen. Zwei inzwischen genesene Covid-19-Patienten überließen den Wissenschaftlern dort Blutspenden, aus denen die Gene von mehreren Tausend Antikörpern identifiziert werden konnten. 20 bis 50 Prozent davon seien voraussichtlich gegen das Virus gerichtet. Diese sollen nun gentechnisch hergestellt werden mithilfe von Mäusen.
Auch an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) wird an einem Impfstoff gegen den neuartigen Erreger geforscht. Die Uni verfolgt dabei einen nach eigenen Angaben vielversprechenden Ansatz, der gegen das MERS-Coronavirus schon am Menschen getestet wird.
Das Münchner Klinikum Rechts der Isar ist nach Angaben des Wissenschaftsministeriums
nicht nur mit dem neuen Schnelltest-Verfahren befasst, sondern auch eines von derzeit vier deutschen Zentren, die an einer Zulassungsstudie des als vielversprechend geltenden Medikamentes Remdesivir arbeiten. Das Mittel war ursprünglich zur Behandlung von Ebola entwickelt worden. Auch die München Klinik Schwabing, die deutschlandweit die längste Erfahrung mit Corona-Patienten hat, weil dort im Januar die ersten erkrankten Mitarbeiter der Firma Webasto behandelt wurden, nimmt an dieser Studie teil.
Der Freistaat will die Kräfte der Wissenschaft nun stärker bündeln. Zur Erforschung des Coronavirus haben sich bayernweit rund 100 Wissenschaftler und rund 70 Medizinstudenten zu einem Forschungsteam zusammengeschlossen. „Gemeinsam arbeiten wir daran, dieses Virus besser zu verstehen, es effektiv zu bekämpfen und erfolgreich aus dieser Krise hervorzugehen“, sagt Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU). Ziel sei es, Corona langfristig in den Griff zu bekommen.