Wie Corona-Infizierte ganz leicht durchs Raster fallen
Weil sie keine spezifischen Symptome hat, wird eine Frau nicht getestet – Doch sie hat das Virus in sich
- Nach ihrem Urlaub auf den kanarischen Inseln Mitte März fühlt sich eine Lindauerin nicht gut. Sie glaubt, sie hat Corona. Doch weil sie keine spezifischen Symptome aufweist, wird sie auch nicht getestet. Durch einen Zufall stellt sich dann aber einige Tage später heraus: Sie trägt das neuartige Virus tatsächlich in sich. Ihr Fall zeigt, wie Corona-Infizierte in Lindau ganz leicht durchs Raster fallen.
Am 16. März kommt die 31-Jährige aus ihrem Urlaub zurück nach Deutschland. Die Lage in Spanien ist damals bereits angespannt, das Robert-Koch-Institut stuft zu dieser Zeit allerdings lediglich die Stadt Madrid als internationales Risikogebiet ein. Für die kanarischen Inseln gelten noch keine Warnungen. Sie gehören zwar zu Spanien, liegen geografisch aber bei Afrika, auf Höhe von Marokko. Auch eine pauschale Quarantäne nach Auslandsreisen gilt damals noch nicht. Zu Hause angekommen, fühlt sich die junge Frau schlapp und fiebrig, allerdings ist ihre Temperatur nicht erhöht. Außerdem muss sie niesen, hat Halsschmerzen und ein Kratzen im Hals. Sie sorgt sich: „Mein Flug war verspätet, der Flughafen total voller
Menschen“, sagt die Frau, die sich bei der LZ gemeldet hat, ihren Namen dann aber doch nicht in der Zeitung lesen möchte. Aus Angst vor einer Stigmatisierung, wie sie sagt.
Sie ruft schließlich beim Lindauer Arzt Daniél Predel an. Ihre Symptome deuten nicht auf Corona hin, am 23. März hat sie einen Termin in seiner Praxis. Der Arzt verschreibt der Patientin ein Anti-Allergikum. Denn sie hat eine Pollenallergie. Doch die junge Frau glaubt, dass sie Corona hat. Sie bittet den Arzt um eine Überweisung für das Corona-Testzelt. Allerdings bekommt sie die nicht. „Aufgrund der Beschwerden habe ich mich entschieden, sie nicht zu testen“, sagt Daniél Predel auf Nachfrage der Lindauer Zeitung. Damit habe er sich an die Vorgaben des Lindauer Gesundheitsamts gehalten. „Wir sind dazu angewiesen, Patienten mit nicht-typischen Symptomen auch nicht zu testen“, erklärt er. „Weil die Kapazitäten sonst nicht ausreichen.“
Ähnliches bekommt die Lindauerin vom ärztlichen Bereitschaftsdienst zu hören, an den sie sich ebenfalls wendet: Ihre Symptome deuten nicht auf Corona hin. Auch dort bekommt sie keine Überweisung für das Testzelt.
Auf Anfrage verweist Landratsamtssprecherin Sibylle Ehreiser auf eine Orientierungshilfe, die das Robert-Koch-Institut zur Verfügung stellt. Demnach hat der Arzt exakt nach Vorschrift gehandelt, die Symptome der Lindauerin entsprechen nicht den dort angegeben Kriterien für einen Corona-Test. „Getestet werden sollen nur Patienten mit ganz klaren Symptomen wie Husten, Fieber, Glieder- und Kopfschmerzen“, erklärt Predel. „Ich schicke wirklich jeden mit Symptomen zum Test.“
Bei leichten Symptomen empfiehlt das Robert-Koch-Institut laut Ehreiser sogar nur unter diesen Bedingungen einen Test: Wenn man in den letzten zwei Wochen Kontakt hatte zu einem Erkrankten, bei dem im Labor eine COVID-19-Diagnose gestellt wurde, eine Vorerkrankung besteht oder die Atemwegserkrankung schlimmer wird (zum Beispiel Atemnot oder hohes Fieber). Oder wenn man bei der Arbeit oder ehrenamtlichen Tätigkeit mit Menschen in Kontakt kommt, die ein hohes Risiko für schwere Erkrankungen haben (zum Beispiel im Krankenhaus oder der Altenpflege).“Auch das trifft bei Predels Patientin nicht zu. Hätte der Arzt sie zum Testzelt geschickt, hätte er also gegen die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts und damit auch gegen die Vorgaben des Gesundheitsamts
gehandelt.
Nach ihrem Arztbesuch sei sie total erleichtert gewesen, erzählt die Lindauerin. Kein Corona. Weil sie sich immer noch schwach fühlt, versucht sie, ihr Immunsystem auf Trab zu bringen. „Ich war sogar joggen“, sagt sie.
Vier Tage später, am 27. März, wird die Frau durch einen Zufall dann doch noch getestet. Über Beziehungen kommt sie an einen Antikörper-Schnelltest, den ein Arzt aus dem Landkreis Lindau von einem Unternehmen zum Ausprobieren bekommen hat. „Ich wollte einfach Klarheit“, sagt sie. Ein kleiner Pikser in den Finger, zehn Minuten später liegt das Ergebnis vor. Für die Lindauerin ist es ein Schock, denn der Test ist positiv. „Ich hatte schon Antikörper im Blut.“
Der Antikörper-Schnelltest ist noch nicht auf dem Markt, die Genauigkeit dieser Verfahren ist umstritten. Laut dem neu entwickelten Test enthält das Blut der Frau Immunglobulin M, was darauf hindeutet, dass sie akut erkrankt ist. Mit dieser Information ruft sie einen anderen Lindauer Arzt an, der sie schließlich ins Corona-Testzelt überweist. Am 3. April wird sie dort getestet. Seit Dienstag hat sie das offizielle Ergebnis vom Gesundheitsamt: Sie hat Corona.
„Jetzt habe ich endlich Gewissheit“, sagt die 31-Jährige. Dass es letztlich ein Zufall war, durch den ihre Infektion ans Licht kam, verwundere sie sehr. „Es ist unglaublich schwierig, an einen Test zu kommen.“Nach ihrer Diagnose muss sie dem Gesundheitsamt eine Liste mit allen Menschen aufschreiben, zu denen sie ab zwei Tage vor Symptombeginn Kontakt hatte. „Aber ab wann war mein Symptombeginn?“, fragt sie.
Das lässt sich nicht mehr herausfinden. „Aufgrund der sehr unterschiedlichen Infektionsverläufe ist eine Ansteckung in Spanien nicht ausgeschlossen. Die Betroffene kann sich aber auch auf dem Flug oder später bei anderen Personen angesteckt haben“, schreibt Landratsamtssprecherin
Sibylle Ehreiser, die sich wegen des Datenschutzes allerdings nur allgemein äußern kann. „Die Zeiträume, bis zu denen Symptome auftreten, sind unter Umständen recht lang. Ab einer gewissen Zeit lassen sich die Infektionsketten dann auch nicht mehr nachvollziehen.“
Der Arzt Daniél Predel glaubt nicht, dass die Lindauerin sich in Spanien angesteckt hat. Schließlich seien zwischen ihrem Besuch bei ihm und dem Test des Gesundheitsamts elf Tage vergangen. Die Rückkehr aus dem Urlaub war noch einmal eine Woche früher. „Das ist schon sehr lange“, sagt er. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich später in Deutschland angesteckt hat, ist hoch.“
Möglich sei auch, dass die Patientin Heuschnupfen und Corona gleichzeitig oder kurz nacheinander bekommen habe. „Ich kann als Mensch auch mehrere Sachen auf einmal haben“, sagt der Arzt. Zumal vor allem junge Leute die Symptome von Corona oft überhaupt nicht oder nur leicht spüren. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch: „Ein großer Teil der Infektionen bleibt unerkannt. Wir haben viele unentdeckte Fälle, die sich verbreiten.“
Weil das Landratsamt weiterhin mit steigenden Fallzahlen rechnet, entsteht in der Lindauer Eishalle derzeit ein neues Corona-Testzentrum. Es öffnet am Dienstag. Laut Landratsamtssprecherin Sibylle Ehreiser schafft das neue Testzentrum die Voraussetzungen, um künftig mehr Patienten auf Corona testen zu können. Allerdings gelte auch weiterhin: Eine Überweisung dorthin bekommt nur, wer akute Symptome aufweist.
Der erkrankten Lindauerin geht es mittlerweile wieder gut, sie fühlt sich gesund. Allerdings ist sie nun seit Dienstag für zwei Wochen in Quarantäne.
„Ein großer Teil der Infektionen bleibt unerkannt.“
Arzt Daniél Predel
Wie die Arbeit im neuen CoronaTestzentrum funktioniert, lesen Sie auf Seite 18.