Neustart mit angezogener Handbremse
Die Empfehlungen der Leopoldina-Wissenschaftler im Überblick
(dpa) - Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will an diesem Mittwoch mit den Ministerpräsidenten über mögliche Lockerungen der Beschränkungen für Menschen und Wirtschaft in Deutschland beraten. Eine wichtige Grundlage dürften die am Montag vorgelegten Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina aus Halle sein. Ein Überblick:
Bildung:
Die Leopoldina-Experten raten zu einer schrittweisen und nach Jahrgangsstufen differenzierten Wiedereröffnung von Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen. Alle Maßnahmen müssten hier auf längere Zeit unter Einhaltung der Vorgaben zu Hygiene, Abstand, Mund-Nasen-Schutz, Tests und Quarantäne umgesetzt werden.
Ihre Empfehlung, zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe 1 (Haupt-, Real- und Gesamtschulen bis Klasse 10 sowie Gymnasien bis einschließlich der Klassen 9 beziehungsweise 10) zu öffnen, begründen sie damit, dass Jüngere mehr auf persönliche Betreuung, Anleitung und Unterstützung angewiesen seien.
In Grundschulen müsse mit reduzierten Gruppengrößen von maximal 15 Schülern gestartet werden, um das Abstandsgebot besser einhalten zu können. Zeitversetzter Unterricht sei möglich. Zudem solle es eine Konzentration auf Schwerpunktfächer geben, etwa Deutsch und Mathe in der Grundschule. „Der Schulhof darf nicht zum Austauschort von Viren werden“, wird betont. Es solle mit den Abschlussklassen begonnen werden, „damit sie auf den Übergang in die weiterführenden Schulen vorbereitet werden können“.
Entsprechend dieser Logik empfehlen die Experten auch bei Kitas und Kindergärten einen Betrieb mit reduzierten Gruppengrößen von maximal fünf Kindern (5- und 6-Jährige) je Raum am Übergang zur
Grundschule. Weil kleinere Kinder sich nicht an Distanzregeln und Schutzmaßnahmen hielten, sollen die Kitas für sie bis zu den Sommerferien im Notbetrieb bleiben – dies solle auch für die Horte gelten.
In der Sekundarstufe 1 solle der Unterricht mit jenen Stufen beginnen, bei denen zentrale Abschlussprüfungen stattfänden – bei allen weiteren Jahrgängen wird eine Konzentration auf Kernfächer (Deutsch, Mathe, Fremdsprachen) vorgeschlagen. An den Universitäten und Hochschulen solle das Sommersemester „weitgehend als Online/Homelearnig-Semester zu Ende geführt werden“.
Öffentliches Leben:
Zunächst könnten etwa der Einzelhandel, das Gastgewerbe und Behörden öffnen, schlagen die Leopoldina-Experten vor. Auch private und dienstliche Reisen sowie gesellschaftliche, kulturelle und sportliche Veranstaltungen könnten wieder stattfinden. Auch hier sollte jedoch als Voraussetzung gelten, dass es wenige Neuinfektionen gebe, Hygieneregeln eingehalten werden und Krankenhäuser gut gerüstet sind. Die Experten sprechen sich zudem für eine Maskenpflicht etwa in Bussen und Bahnen aus.
Pandemiebekämpfung:
„In der Phase der allmählichen Lockerung darf es nicht wieder zu einem raschen Anstieg der Infektionszahlen kommen“, warnen die LeopoldinaExperten. Als wirksamste Maßnahmen beschreiben sie das Tragen von Mund-Nasen-Schutz, flächendeckendes Testen, die Verwendung mobiler Daten, die Identifizierung der Infizierten sowie die Entwicklung von Therapien. Dies sei notwendig, um das System zu stabilisieren, bis ein wirksamer Impfstoff gefunden sei.
Es wird aber betont, dass es auch aus gesundheitlicher Sicht wichtig sei, die Maßnahmen zu lockern. Als negative Auswirkungen nennen die Forscher unter anderem eine Zunahme häuslicher Gewalt und psychische Probleme wegen wirtschaftlicher Existenznöte. Explizit abgelehnt wird eine Isolierung von einzelnen Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise älteren Menschen zu deren Schutz.
Entscheidungsgrundlage Wirtschaft und Finanzen: Abwägungsprozesse: optimieren:
Die Leopoldina kritisiert, dass bisherige symptomgeleitete Erhebungen zur verzerrten Wahrnehmung des Infektionsgeschehens führen. Um bessere Daten zu bekommen, werden die Erhebung von GPSDaten und App-Umfragen nach dem Gesundheitszustand oder Datenspenden von Fitness-Armbändern genannt. Die freiwillig bereitgestellten Daten könnten anonymisiert, sicher und geschützt als Fundament für bessere Prognosen dienen.
Staatsbeteiligungen sollten laut Leopoldina „nur im äußersten Notfall zur Stabilisierung von Unternehmen eingesetzt werden“. An der Schuldenbremse sei festzuhalten. Mittelfristig würden Impulse nötig werden. Dies könnten Steuerentlastungen sein, das Vorziehen der Teilentlastung beim Solidaritätszuschlag „oder seine vollständige Abschaffung“.
In der Leopoldina-Stellungnahme heißt es: „Grundrechtseinschränkungen müssen nicht nur ein legitimes Ziel verfolgen – was in der gegenwärtigen Situation mit dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung außer Zweifel steht.“Dennoch habe der Staat die Pflicht, angesichts der Schwere der Maßnahmen „ständig zu überprüfen, ob nicht mildere Maßnahmen in Betracht gezogen werden können“.