Lindauer Zeitung

Schwerhöri­gkeit nicht ignorieren

Viele Betroffene wollen erste Anzeichen nicht wahrhaben – mit teils gravierend­en Folgen

- Von Angelika Mayr

(dpa) - In Gesprächen muss man ständig nachfragen. Oder man bekommt immer häufiger nicht mit, wenn man von der Seite angesproch­en wird. Solche Hörproblem­e sollten ältere Menschen nicht heruntersp­ielen: Ursache könnte eine altersbedi­ngte Hörminderu­ng sein. Hinter der steckt ein natürliche­r Prozess. Schämen muss man sich dafür schon gar nicht. Und dennoch: Viele Betroffene wollen keine Hilfe, sie verweigern sich – und nehmen gravierend­e Folgen in Kauf.

Jeder erlebt irgendwann eine Form der Höreinschr­änkung im Alter. Manchmal geht es schon mit 40 los, manchmal erst mit 60 bis 65 Jahren. „Es gibt sicher niemanden, der mit 90 Jahren noch normal hört“, sagt Professor Christian Betz, Direktor der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilk­unde des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf.

Der Grund: Die Lebensdaue­r der Innenohrha­arzellen ist begrenzt, sie können sich nicht mehr regenerier­en. „Diese Lebensdaue­r ist von Person zu Person unterschie­dlich“, erklärt Betz. Eine Prävention gegen diesen altersbedi­ngten Abbau gibt es nicht.

Der Betroffene selbst spürt den Hörverlust zwar. „Es ist aber nicht so, dass man plötzlich nichts mehr hört oder bestimmte Geräusche nicht mehr da sind“, sagt Betz. Sondern: „Es wird schwierige­r, diese voneinande­r zu unterschei­den oder einzelnen Schallquel­len zuzuteilen.“So kann man zum Beispiel in einer Gruppe nicht mehr gut den Worten einer einzelnen Person folgen.

Betz erklärt es genauer: „Die höheren Töne werden anders als die niedrigen schlechter verstanden. Dadurch können die Obertöne in der Sprache nicht mehr gut differenzi­ert werden, die örtliche Zuordnung der Schallquel­len wird schwierige­r.“

Das äußert sich auch im Haushalt – manchmal zum Leidwesen anderer. So werde beispielsw­eise das Telefon oder die Türklingel überhört sowie Fernseher und Radio lauter gestellt, ergänzt Stefan Zimmer, Vorsitzend­er des Bundesverb­ands der Hörgeräte-Industrie (BVHI).

Gespräche in Gruppen und am Telefon empfinden Betroffene häufig als anstrengen­d. Sie seien häufiger erschöpft, litten unter Verspannun­gen, schliefen in der Regel schlechter und mieden soziale Kontakte, so Zimmer. „Alarmieren­d wird es, wenn akustische Warnsignal­e wie zum Beispiel im Straßenver­kehr nicht mehr wahrgenomm­en werden.“

Dann gilt es zu handeln, denn: „Wird eine leichte Hörminderu­ng früh behandelt, kann ein Fortschrei­ten verhindert werden“, sagt Zimmer. Ohne Hilfe dagegen verschlech­tert sich das Hören weiter. Soziale Isolation und Depression­en sind mögliche Folgen. Auch die kognitiven Fähigkeite­n könnten abbauen. „Eine Demenz kann die Folge sein“, sagt Mediziner Betz.

Trotzdem weigern sich viele, Hilfe anzunehmen. „Weil es ein schleichen­der Prozess ist, ist die Dunkelziff­er an nicht adäquat versorgten Menschen sehr hoch“, sagt Betz. „Nur etwa 20 Prozent der Hörgeschäd­igten, die von einer Hörhilfe profitiere­n könnten, tragen eine solche.“

Werden die Betroffene­n darauf angesproch­en, spielen viele ihre Symptome herunter. „Sie wollen sich nicht eingestehe­n, dass sie an einer körperlich­en Behinderun­g leiden – und nichts anderes ist ein Hörverlust“, sagt Betz. Da bei einer Altersschw­erhörigkei­t meist beide Ohren betroffen sind, lernen die Betroffene­n instinktiv, von den Lippen abzulesen. „Sie realisiere­n das selbst aber nicht.“

Am Ende sollten Freunde oder Familie die Initiative ergreifen, denn auch sie leiden unter dieser Hörminderu­ng. „Wichtig ist, von Anfang an Verständni­s zu zeigen. Bieten Sie an, sich gemeinsam bei einem Hörakustik­er über die Versorgung­smöglichke­iten einer Schwerhöri­gkeit zu informiere­n“, empfiehlt Zimmer.

Ähnlich wie bei Ohrgeräusc­hen, Tinnitus, Infektione­n oder einem

Hörsturz muss auch bei einer Hörminderu­ng aber zuerst der HNOArzt die Art und Ursache bestimmen.

Falls ein Hörgerät verschrieb­en wird, erklärt ein Hörakustik­er die Modelle und bietet sie zum Probetrage­n an. Danach stellt die Expertin oder der Experte das Hörsystem schrittwei­se ein und macht mit dem Träger, falls notwendig, ein Hörtrainin­g. Viele neue Systeme können auch via Bluetooth kabellos mit der Stereoanla­ge, dem Fernseher oder dem Telefon verbunden werden.

Trotzdem wird ein solches Gerät von manchen noch als ästhetisch inakzeptab­el und als Stigma empfunden – von Betroffene­n ebenso wie von der Außenwelt. Auch die Handhabbar­keit ist für Ältere ein Problem. „Das Gravierend­ste ist aber, dass man sich erst an die Hilfe gewöhnen muss“, sagt HNO-Arzt Betz. Denn der Betroffene hört damit nicht ad hoc so wie früher.

„Das ist ein Lernprozes­s über mehrere Monate“, so Betz. „Das Gehirn hat sich daran gewöhnt, die hohen Töne nicht mehr zu hören. Wenn jetzt die Hörhilfe die hohen Töne wieder verstärkt, empfindet das das Hirn als störend.“Man müsse die Hörhilfe also jeden Tag tragen, obwohl sie vielleicht erst mal als unangenehm empfunden werde.

„Weil es ein schleichen­der Prozess ist, ist die Dunkelziff­er an nicht adäquat versorgten Menschen sehr hoch.“

HNO-Spezialist Christian Betz

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FOTO: KAI REMMERS/DPA Viele Menschen hören im Alter zunehmend schlechter.
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FOTO: BVHI/DPA Dr. Stefan Zimmer.

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