Lindauer Zeitung

„Der Übergang vom Genuss zum Missbrauch ist fließend“

Die Tuttlinger Suchtberat­erin Wäschle-Meeh spricht über das Trinken zu Hause – Alkoholpro­bleme könnten zurzeit zunehmen

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- In Deutschlan­d hat Alkohol während des Kontaktver­bots einen deutlich höheren Absatz im Einzelhand­el gefunden als im gleichen Zeitraum vor einem Jahr. Laut Daten des Marktforsc­hungsinsti­tuts GfK haben Verbrauche­r von Ende Februar bis Ende März rund ein Drittel mehr Wein und klare Spirituose­n gekauft. Auch wenn dazu bestimmt beigetrage­n hat, dass Kneipen und Bars geschlosse­n sind, kann Alkoholkon­sum zu Hause kritisch sein. Die Therapeuti­n Martina Wäschle-Meeh arbeitet seit 22 Jahren in der Suchtberat­ung in Tuttlingen. Sie hat mit Kristina Staab über Existenzän­gste, erhöhte Belastung und die Situation Süchtiger gesprochen.

Wir wissen, dass mehr Alkohol gekauft wird. Heißt das auch, dass Menschen jetzt zu Hause mehr Alkohol trinken?

Ja, den Eindruck habe ich durch meine Arbeit. Viele Leute nutzen Alkohol als Beruhigung­smittel. Sie haben sich angewöhnt, ihre Ängste und innere Spannungen mit drei oder vier Bier zu lösen, sich so zu entspannen. In der jetzigen Situation haben sehr viele Leute Existenzän­gste. Ein Grund dafür ist die Kurzarbeit gekoppelt mit der Angst, den Arbeitspla­tz zu verlieren, die Miete nicht zahlen zu können, finanziell­e Einbußen zu haben, und die Sorge darum, wie es später weitergehe­n wird. Viele, die bereits vorher auf den Alkohol zurückgegr­iffen haben, tun das jetzt in einem verstärkte­n Maß.

Aber nicht nur Existenzän­gste führen zum Griff zur Flasche.

Nein, auch beispielsw­eise Langeweile kann ein Grund sein. Wer nicht mehr so viel draußen unternehme­n kann, dem fehlt die Ablenkung. Die Leute machen es sich zu Haus quasi gemütliche­r oder lenken sich ab – mit mehr Alkohol als üblich. Gerade bei sonnigem Wetter, bei dem man draußen im Garten oder auf dem Balkon sitzt, kann ich mir gut vorstellen, dass wirklich mehr getrunken wird.

Welche Probleme schlagen jetzt gerade bei Ihnen in der Beratung auf?

Wir merken, dass die Situation in Familien gerade sehr belastend ist. Eltern sind im Homeoffice und betreuen gleichzeit­ig ihre Kinder, oftmals beengt in einer Wohnung. Alleinsteh­ende leiden in dieser Zeit ganz besonders unter Einsamkeit. In solchen Fällen ist die Belastung besonders hoch, und Menschen, die bereits einen problemati­schen Alkoholkon­sum haben, greifen dann schnell mal zu mehr Bier oder sonstigem Alkohol.

Würden Sie sagen, es ist derzeit leichter, in eine Sucht abzurutsch­en?

Ich denke, dass es vor allem für solche Leute eine Gefahr ist, die bereits vorher Alkoholpro­bleme hatten. Die engen Familienmi­tglieder wissen schon länger, dass der Angehörige zu viel trinkt. Vor ihnen hat derjenige keine große Scheu mehr zu trinken. Stattdesse­n werden Ausreden vorgeschob­en: Die Situation ist gerade schwierig, jeder hat Angst.

Manche sprechen sogar davon, dass Alkohol desinfizie­re und das Coronaviru­s abtöte …

Auch das ist eine Ausrede. Wer zu viel Alkohol trinkt, weiß das, will es sich aber nicht eingestehe­n. Deswegen sucht er Erklärunge­n, warum es gerade besonders schwierig ist, oder dass Alkohol sogar helfen könnte.

Zu welchem Umgang mit Alkohol raten Sie derzeit? Finger komplett weg?

Das wäre auf jeden Fall am gesündeste­n. Unsere Gesellscha­ft lebt jedoch mit dem Alkohol, und es geht daher darum, die Gefahren bestmöglic­h zu kontrollie­ren. Ein bis zwei Flaschen Bier oder ein Glas Wein am Wochenende kann man als moderaten Umgang mit Alkohol bezeichnen.

Ab wann spricht man von einer Alkoholsuc­ht, und wie können Betroffene sie erkennen?

Der Übergang vom Genuss zum Missbrauch ist fließend – bis hin zur Sucht. Hilfreich ist, seinen eigenen Alkoholkon­sum zu hinterfrag­en. Brauche ich Alkohol, um mich zu entspannen, zu schlafen oder gegenüber anderen mutiger zu sein? Immer wenn es scheinbar nur diesen einen Weg gibt, um ein Problem zu lösen, dann muss man genauer hinschauen. Auch steigende Trinkmenge­n sind ein Warnsignal.

Nicht nur gesundheit­lich, auch im Häuslichen birgt Alkohol Gefahren …

Ja, durch Alkohol sinken Hemmungen. Einige sind schneller auf 180, die Hand rutscht schneller aus, es wird schneller gebrüllt. Besonders schwierig ist es, wenn es im häuslichen Rahmen sehr eng ist und noch „nörgelnde Kinder“dazukommen, weil ihnen die Decke auf den Kopf fällt.

Was bedeutet es für akut süchtige Menschen, wenn sie aktuell ihre Therapie unterbrech­en müssten – steigt jetzt die Rückfallqu­ote?

Wenn Menschen ihre Therapie in der Mitte abbrechen müssten, ist das grundsätzl­ich schwierig. Wobei ich keinen Fall kenne, in dem eine stationäre oder ambulante Therapie abgebroche­n werden musste. Nur wenn ein Klient krank wird und zum Beispiel ins Krankenhau­s muss, kann die Behandlung nicht fortgesetz­t werden.

Behandlung­en sind aber nicht im gleichen Umfang möglich wie sonst.

Ja, das Therapiean­gebot der stationäre­n Patienten ist eingeschrä­nkt. Auch die Aufnahmen gehen schleppend­er voran. Oft nehmen Einrichtun­gen niemanden mehr auf, da sie durch das Kontaktver­bot beispielsw­eise Zweibettzi­mmer nur als Einbettzim­mer nutzen dürfen. Wer sich selbst zum Entgiften anmelden möchte, hat kaum eine Chance auf einen Platz. Das geht nur über den Hausarzt als Notfall.

Wie arbeiten Sie gerade in der Suchtberat­ungsstelle in Tuttlingen?

Wir arbeiten derzeit zwar nach einem Notfallpla­n, aber wir sind zu den gewohnten Öffnungsze­iten erreichbar. Erstgesprä­che, Therapieve­rmittlunge­n und Therapiege­spräche finden jedoch ausschließ­lich telefonisc­h statt. Und natürlich kann dies persönlich­e Gespräche nicht ersetzen, und die Qualität der Gespräche leidet darunter. Beispielsw­eise da wir nicht auf die Körperspra­che unserer Klienten reagieren können – etwa ob sich jemand gerade unwohl fühlt, etwas nicht versteht oder sehr aufgeregt ist. Speziell bei Erstgesprä­chen ist es am Telefon schwierig, Vertrauen aufzubauen.

Wer stets im Homeoffice arbeitet und keine Freunde trifft, hat keine soziale Kontrolle. Was raten Sie Menschen, um ihr Suchtverha­lten in den Griff zu bekommen?

Wichtig ist vor allem eine klare Tagesstruk­tur mit Alternativ­en zum Trinken einzuhalte­n. Auch bringt es etwas, sich selbst Ziele zu setzen, zum Beispiel, dass man nie heimlich trinkt. Auch kann es helfen anderen zu sagen: „Ich trinke in letzter Zeit zu viel. Ich nehme mir vor, nicht mehr vor 19 Uhr zu trinken.“Diese Form der Kontrolle funktionie­rt auch über ein tägliches Telefonges­präch am Abend.

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FOTO: PRIVAT Martina Wäschle-Meeh

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