Lindauer Zeitung

Corona und die Freiheit des Christenme­nschen

- Von Ralf Gührer

Seit einigen Wochen fanden keine Gottesdien­ste mehr in den Gotteshäus­ern statt – jetzt dürfen wir uns unter strengen und sinnvollen Auflagen wieder zum Gebet versammeln. Für viele waren die Beschränku­ngen der letzten Woche eine harte Prüfung, fast das gesamte öffentlich­e Leben lag darnieder. Kein Wunder regte sich in den Leuten der Widerstand, und manchmal wich die Angst der Wut über gecancelte Bürgerrech­te.

Manche ließen sich sogar hinreißen, die Gottesdien­stverbote mit einer Christenve­rfolgung zu vergleiche­n – was für ein Hohn für Menschen, die in ihrer eigenen Lebensgesc­hichte Verfolgung und

Unterdrück­ung erlebt haben, oder fliehen mussten, weil sie zu Hause um ihr Leben bangen müssen: Niemand wird bei uns für seinen Glauben, für sein privates Gebet, ob zu Hause oder in den Kirchen, die jetzt sogar oft zusätzlich geöffnet sind, verfolgt oder muss um sein Leben fürchten! Nein, ganz im Gegenteil muss man sich um sein Leben fürchten, wenn die Rufer*innen nach Bürgerrech­ten ihre persönlich­e Freiheit mit Egoismus verwechsel­n. ICH will, ICH darf, es ist MEIN Recht!

Diese seltsame Zeit macht offenbar, was wir unter Freiheit verstehen. Diese Freiheit, die uns zum Beispiel der christlich­e Glaube lehrt, die unter anderem in der Reformatio­n so vehement diskutiert und greifbar wurde – die uns aber gerade als christlich­e Freiheit zu einer Verantwort­ung für das Gemeinwese­n auffordert. Meine Freiheit ist ein Wert, den ich für andere einsetzen soll – genau das hat Jesus uns gepredigt und vorgelebt. In diesem Sinne kann der Satz „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenk­enden“von Rosa Luxemburg die christlich­e Botschaft sehr gut beschreibe­n. Und es ist die Freiheit der Schwächere­n.

Ohne die immensen wirtschaft­lichen, sozialen und psychische­n Schwierigk­eiten dieser Zeit zu verdrängen, sollten wir nachdenken, wo wir der Gemeinscha­ft jetzt dienen können. Ein Dienst an der Gemeinscha­ft war und ist jetzt auch Verzicht auf gewohnte Gottesdien­ste.

Das ist natürlich eine große Prüfung im Glauben: „Funktionie­rt“ mein Glaube, meine Beziehung zu Gott auch, wenn ich alleine bete? Oder ist da nichts mehr? War denn dann vorher überhaupt etwas? Ist meine Sehnsucht jetzt wirklich eine Sehnsucht nach Gott – oder ein Vermissen der Geselligke­it und Gewohnheit?

In der Religionsg­eschichte waren Zeiten, in denen alle Gewohnheit­en genommen wurden, auch wichtige Erneuerung­szeiten. Die Bibel ist voll von diesen Geschichte­n: Immer, wenn der Mensch sich seiner Sache – seines Glaubens – zu sicher war, kam eine Erschütter­ung. Und dann ein Neuanfang und eine neue Blüte. Wir dürfen nicht in die alten (Glaubens-) Gewohnheit­en zurückfall­en, auch, wenn wir das jetzt gerne so schnell wie möglich wollen.

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FOTO: STEFFEN MATTHES Ralf Gührer

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