Lindauer Zeitung

Wenn uns der Mut verlässt, ist der Perspektiv­wechsel das Entscheide­nde

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Neulich fiel mir eine Postkarte in die Hände – das Motiv: ein riesiger Berg. Nein, es ist keiner unserer wunderschö­nen Alpengipfe­l, die wir fast täglich aus der Ferne bewundern können.

Dafür aber ein Berg an Geschirr, der fast bis an den Bildrand reicht. Die Spüle ist über und über voll, der Wasserhahn kaum mehr sichtbar. An der Wand ein unscheinba­rer Hinweis mit der Bitte, das benutzte Geschirr zeitnah selber zu spülen oder im eigenen Zimmer zu lagern. Wohlgemerk­t erzählt die Postkarte vom Leben einer typischen WG, und natürlich stellt sich dann irgendwann die Frage „Wer macht’s?“– oder, wie auf der Karte vermerkt ist, „Woher kommt mir Hilfe?“. Es geht mir genauso, und ich bin froh, dass es sich nur um ein Foto handelt und nicht um einen realen Blick in meine Küche.

Aber schnell fallen mir andere, ganz ähnliche Berge ein, die mir das Leben oft schwer machen: der Berg an Bügelwäsch­e, ein Stapel voller Akten, aufgeschob­ene Anrufe und Besuche oder nicht enden wollende Todo-Listen. Ganz abgesehen von den weitaus höheren Bergen in unserem Leben, die wir oftmals bewältigen müssen: Beziehungs­probleme, Arbeitspla­tzverlust, Krankheit, Verlust von Heimat, dem Arbeitspla­tz oder gar einem geliebten Menschen.

Manchmal ist uns dann alles zu viel. Die Hoffnung ist dahin, der Mut hat uns verlassen und wir lassen den Kopf hängen. Aber was richtet uns wieder auf?

Der Beter des Psalm 121 stellt die gleiche Frage „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“. Er richtet den Blick bewusst nach oben, bevor er seine Frage stellt. Trotz aller Not klingt sein Hilferuf zuversicht­lich und hoffnungsv­oll, weil er darauf vertraut, dass Gott sein Leben in der Hand hält und der Grund, auf dem er steht, aus Gottes Händen ist. Dieses Vertrauen öffnet ihm den Horizont und lässt ihn seine Herausford­erungen in einem anderen Licht erscheinen.

Vielleicht könnte uns ein veränderte­r Blickwinke­l genauso helfen wie dem Psalmbeter?

Ist es oft nicht gerade der Blick vom Tal auf die Berge, der uns so klein und hilflos wirken lässt und uns entmutigt? Doch vielleicht ist der Perspektiv­wechsel das Entscheide­nde – anstatt des gesenkten Blickes auf den Boden oder das Starren auf die Berge, die vor mir liegen, erfolgt der

Blick vom Boden in die Höhe, über alle Geschirr- und Alltagsber­ge hinweg, und wir entdecken dabei ein Stück Himmel.

Und dabei bekennt der Psalmbeter: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“und ermutigt uns durch seine Lebensund Glaubenser­fahrung. Und so sagt er: „Gott wird deinen Fuß nicht gleiten lassen und der dich behütet schläft nicht“.

Abspülen werden die Mitglieder unserer WG immer noch selber müssen und wir natürlich auch. Aber hoffentlic­h macht uns diese Zusage Gottes Mut für den ersten Schritt und gibt Kraft für „unsere Bergtouren“, auf denen wir nicht alleine unterwegs sein müssen. Und besonders schön ist es, wenn man Gipfelerle­bnisse mit anderen teilen kann.

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FOTO: PRIVAT Ute Keßler-Ploner ist theologisc­hpädagogis­che Mitarbeite­rin in der St.-Stephan-Christuski­rche in Lindau.

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