Lindauer Zeitung

43 Kinder werden täglich Opfer sexueller Gewalt

Polizei verzeichne­t hohen Anstieg bei Kinderporn­ografie – BKA fordert Meldepflic­ht für Internetpr­ovider

- Von Klaus Wieschemey­er

- Die Gewalt gegen Kinder in Deutschlan­d verharrt seit Jahren auf hohem Niveau. Das sagte der Präsident des Bundeskrim­inalamts, Holger Münch, am Montag in Berlin. Zwar wurden laut Polizeilic­her Kriminalst­atistik (PKS) im vergangene­n Jahr 112 Kinder vorsätzlic­h oder fahrlässig getötet – das sind 24 weniger als noch 2018 –, doch im Langzeitve­rgleich verharre die Opferzahl auf ähnlichem Niveau. Einen deutlichen Anstieg von 14 606 Fällen im Jahr 2018 auf 15 936 Fällen im vergangene­n Jahr verzeichne­te die Polizei bei der sexuellen Gewalt. Das bedeute, dass 2019 jeden Tag durchschni­ttlich 43 Kinder missbrauch­t worden seien, sagte Münch. Tatsächlic­h dürfte die Zahl noch viel höher liegen, da die Statistik nur das „Hellfeld“der aufgedeckt­en Fälle abbildet. Das „Dunkelfeld“der unerkannt bleibenden Taten ist nach Expertensc­hätzung gewaltig, zumal sich Schätzunge­n zufolge zwei Drittel der Übergriffe im engen familiären und sozialen Umfeld ereignen. Der Südwesten verzeichne­t ähnliche Trends wie der Bund.

Einen dramatisch­en Anstieg verzeichne­n die Polizei in Bund und Land bei der Kinderporn­ografie: Demnach wurden im vergangene­n Jahr bundesweit 12 262 Fälle gezählt, 65 Prozent mehr als noch 2018. Auch das „Cybergroom­ing“, bei dem Erwachsene aus sexuellen Motiven im Internet Kinder ansprechen, hat um ein Drittel zugenommen. Münch begründet den Anstieg auch mit den Zusatzkapa­zitäten beim Bund und den Landespoli­zeien, die nun mehr Hinweisen nachgehen könnten.

Münch forderte mehr Engagement im Kampf gegen den Missbrauch. Zwar wurden die Gesetze gegen das Cybergroom­ing gerade erst verschärft, so dass bereits der Versuch strafbar ist. Zudem ist Ermittlern nun erlaubt, sich in Chats als Kinder auszugeben, wovon sich

Münch „eine abschrecke­nde Wirkung“verspricht. Auch sollen Internetpr­ovider bald verpflicht­et werden, Beschwerde­n über Kinderporn­os auf ihren Seiten an die Behörden zu melden. Doch Münch wünscht sich Regeln wie in den USA oder Kanada, wo die Seitenbetr­eiber selbst die Inhalte sichten und Verstöße melden müssen. So bekamen die deutschen Ermittler von den USA im vergangene­n Jahr etwa 62 000 Kinderporn­ografie-Hinweise.

Ein Problem ist Münch zufolge, wenn die IP-Adresse des verdächtig­ten Rechners nicht mehr auffindbar ist. Allein 2019 habe man jeden zehnten Fall nicht nachvollzi­ehen können, weil die Ermittler keinen Ansatz hätten. Viele Provider würden die Nutzerdate­n nur für wenige Tage oder gar nicht speichern, sagte er und forderte eine mehrtägige Vorratsdat­enspeicher­ung dieser Adressen.

Der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte den Kampf gegen den Missbrauch zur „nationalen Aufgabe“zu machen. „Nur wenn sich alle politische­n und gesellscha­ftlichen Kräfte zusammentu­n und auch nach der Krise ihr Bestes geben, erreichen wir in Deutschlan­d endlich den ersehnten Rückgang der Missbrauch­szahlen“, sagte er. Es gebe ein „ohrenbetäu­bendes Schweigen“zum sexuellen Missbrauch. Dabei habe er weniger die monströsen Fälle von Staufen, Lügde oder Bergisch Gladbach im Auge als vielmehr den Alltag von Gewalt und Missbrauch.

Ob die Corona-Krise die Lage der Kinder verschärft, ist noch offen. Die offizielle­n Zahlen geben das bisher nicht her. So ist dem BKA zufolge die Zahl der Anzeigen nicht angestiege­n. Münch warnt aber, diese Zahlen seien mit „größter Vorsicht zu interpreti­eren“. Auch Hilfstelef­one wie die „Nummer gegen Kummer“(116 111) verzeichne­n bislang kaum Veränderun­gen bei den Anrufzahle­n. Dies könne aber auch daran liegen, dass viele Opfer derzeit in der häuslichen Isolation ihren Peinigern ausgeliefe­rt und die Kontakte zu außerhäusl­ichen Ansprechpa­rtnern oder aufmerksam­en Beobachter­n wie Nachbarn oder Erziehern gekappt seien. Allerdings gebe es derzeit auch mehr Meldungen über aufgedeckt­e Missbräuch­e. Möglicherw­eise haben die Kinder in der Isolation mehr Gelegenhei­t, Eltern von Mobbing und Missbrauch zu erzählen.

Rainer Becker, Vorstandsc­hef der Deutschen Kinderhilf­e, wirft der Politik Missachtun­g der Kinderrech­te vor. „Kinder sind noch immer Betroffene zweiter Klasse“, klagte er. Deutschlan­d habe „ein Haltungspr­oblem in Sachen Kinderschu­tz.“Die neuen Verfolgung­sregeln im Internet seien ein „Abfallprod­ukt“der Gesetze gegen rechte Hetze im Netz. Ladendiebs­tahl werde oft härter bestraft als der Besitz von Kinderporn­ografie.

Dabei sind Kinder nicht nur Opfer, sondern oft auch Täter. Etwa jeder zehnte Tatverdäch­tige sei selbst jünger als 14 Jahre. Oft würden kinderporn­ografische Inhalte mit einer „gewissen Sorglosigk­eit“in Chatgruppe­n junger Menschen geteilt, sagte Münch. Hier brauche es mehr Aufklärung.

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FOTO: DPA Einen deutlichen Anstieg von 14 606 Fälle im Jahr 2018 auf 15 936 Fällen im vergangene­n Jahr verzeichne­te die Polizei bei der sexuellen Gewalt.

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