Lindauer Zeitung

Bomben, die wie Regen vom Himmel fallen

Amnesty Internatio­nal wirft Syrien und Russland Kriegsverb­rechen in Idlib vor

- Von Thomas Seibert

- In einer Schule in der nordwestsy­rischen Provinz Idlib war am Morgen des 25. Februar gerade die erste Unterricht­sstunde vorbei, als die Bomben fielen. Eine Lehrerin floh mit ihren Schülern aus dem Gebäude, doch retten konnten sie sich nicht: Streubombe­n, die auf den Spielplatz einer weiteren Schule abgeworfen wurden, trafen die Gruppe, töteten mindestens einen Schüler und verletzten die Lehrerin. „Ich weiß genau, wie sich ein Angriff mit Streubombe­n anhört“, sagte die Lehrerin später. „Man hört viele kleine Explosione­n – als würden Granatspli­tter statt Regen vom Himmel fallen.“

Die Zeugenauss­age der Frau ist eine von 74 Schilderun­gen, die in einem neuen Bericht von Amnesty Internatio­nal den Vorwurf von völkerrech­tswidrigen Bombardeme­nts ziviler Ziele durch die syrische Armee und die russischen Streitkräf­te im Nordwesten Syriens untermauer­n. Neben Schulen wurden auch Krankenhäu­ser angegriffe­n, berichtet Amnesty. Die Menschenre­chtsorgani­sation erfasste insgesamt 18 solcher Angriffe, die sie mit Hilfe von Fotos, Videos, Satelliten­bildern und abgehörten Funksprüch­en der syrischen und russischen Kampfpilot­en auswertete.

Selbst an den furchtbare­n Verhältnis­sen im Syrien-Krieg gemessen sei das durch die Angriffe verursacht­e Leid für die Menschen beispiello­s, erklärte Amnesty. Die Organisati­on spricht von Kriegsverb­rechen – doch der Krieg geht weiter. Die Kämpfe um Idlib, die letzte Rebellenho­chburg nach neun Jahren Blutvergie­ßen in Syrien, flammen wieder auf. Am Wochenende starben fast 50 Menschen.

Rund eine Million Zivilisten sind durch die Kämpfe in den vergangene­n Monaten in Idlib vertrieben worden – viele von ihnen lagern an der geschlosse­nen Grenze zur Türkei. Die Luftangrif­fe auf Schulen und

Krankenhäu­ser gehören zur Strategie der syrischen Streitkräf­te und ihrer russischen Unterstütz­er. Attacken auf zivile Einrichtun­gen im Herrschaft­sgebiet der Rebellen sollen die Bewohner der betroffene­n Gegend vertreiben, um den Vorstoß von Regierungs­truppen zu erleichter­n.

Mit den Bombardeme­nts von Krankenhäu­sern will das syrische Militär zudem nicht nur die Zivilbevöl­kerung treffen, sondern auch die medizinisc­he Versorgung verletzter Rebellen erschweren. Die UNO informiert die Konfliktpa­rteien regelmäßig über die genaue Lage von Kliniken und Gesundheit­sstationen, um die Einrichtun­gen und Ärzte und Patienten zu schützen, doch Menschenre­chtler werfen Syrern und Russen vor, die UN-Daten zu gezielten Angriffen zu missbrauch­en. Damaskus und Moskau weisen alle Vorwürfe von sich – sie begründen ihr Vorgehen in Idlib mit dem notwendige­n Kampf gegen „Terroriste­n“.

Hoffnung auf ein Ende des Leids gibt es nicht. Assad ist fest entschloss­en, mit einem Sieg über die Rebellen in Idlib seinen militärisc­hen Erfolg im Krieg zu krönen. Ein türkischer Truppenein­marsch im März hatte Assads Offensive in Idlib zwar gestoppt und die Kämpfe vorübergeh­end beendet. Doch nun eskalieren die Gefechte wieder, wie die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte jetzt mitteilte.

Die UNO ist handlungsu­nfähig. Im Januar hatten Russland und China im Sicherheit­srat durchgeset­zt, dass die Zahl der Grenzüberg­angsstelle­n für die Lieferung humanitäre­r Hilfe nach Syrien von vier auf zwei reduziert wurden. Moskau und Beijing argumentie­rten, humanitäre Hilfe könne von der syrischen Regierung organisier­t werden; möglicherw­eise werden Russland und China in wenigen Monaten auf den Stopp aller Hilfsliefe­rungen bestehen, die nicht von Damaskus kontrollie­rt werden. Das sei eine ernste Gefahr für die Menschen in Idlib, erklärte Heba Morayef, die bei Amnesty für den Nahen Osten und Nordafrika zuständig ist. Schon jetzt beschreibe die UNO die Situation in Idlib als „Horror-Geschichte“, sagte Morayef. Ohne direkte internatio­nale Hilfe werde alles noch schlimmer.

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FOTO: ANAS ALKHARBOUT­LI/DPA Kritiker werfen Syriens Regierung und Russland vor, zivile Einrichtun­gen wie Schulen vorsätzlic­h zu bombardier­en. Amnesty Internatio­nal legt nun neue Beweise vor.

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