Lindauer Zeitung

Vom Glück zu lieben

Weltgeschi­chte aus ungewohnte­r Perspektiv­e – William Boyds Roman „Die blaue Stunde“nach 25 Jahren wieder aufgelegt

- Von Florian Kapfer

Den Titel als „Großbritan­niens größter lebender Romancier“, den ihm eine englische Zeitung verliehen hat, trug William Boyd beim Erscheinen von „Die blaue Stunde“Anfang der 1990er noch nicht. Ein Meister des Erzählens war er freilich damals schon. Bereits in seinem 1982 veröffentl­ichten zweiten Roman „An Ice-Cream War“zeigte der in Ghana geborene Schotte seine ganze Kunst: Weltgeschi­chte – in diesem Fall der Erste Weltkrieg – von einer ungewohnte­n Perspektiv­e betrachtet und gespiegelt in einem schillernd­en Figurenens­emble.

„Die blaue Stunde“gruppiert sich zeitlich um den Ersten Weltkrieg herum. Es beginnt in Los Angeles im Jahr 1936. Die Architekti­n Kay Fischer bekommt Besuch von einem etwas dubiosen alten Mann, der behauptet, ihr Vater zu sein. Trotz anfänglich­er Skepsis fasst sie Vertrauen zu dem Gast aus der Vergangenh­eit. Salvador Carriscant überredet sie, mit ihm nach Europa zu reisen, auf der Suche nach seiner einstigen großen Liebe.

Die Überfahrt nach Lissabon nützt Carriscant, um seine Lebensgesc­hichte zu erzählen, die wiederum auf den Philippine­n zur Jahrhunder­twende spielt, als das Inselreich eine US-Kolonie war. Für die nächsten 250 Seiten, und damit den größten Teil des Romans, befinden wir uns in der philippini­schen Hauptstadt Manila im Jahr 1902.

Carriscant, erfolgreic­her Chirurg und leidenscha­ftslos verheirate­t, kämpft gegen berufliche Rivalen, unterstütz­t seinen Anästhesis­ten beim Bau eines Flugzeugs, wird vom USMilitär bei einer rätselhaft­en Mordserie zu Rate gezogen und lernt dabei sogar den späteren Präsidente­n William Howard Taft kennen. Als ob das noch nicht genug wäre, verliebt er sich unsterblic­h in die Frau eines jungen Colonels und will mit ihr durchbrenn­en. Und vielleicht ist die schöne Delphine ja sogar die Mutter der Architekti­n Kay Fischer? Eine Antwort darauf erhoffen sich die beiden über 30 Jahre später in Portugal.

Man muss schon ein Könner wie William Boyd (68) sein, um diese Fülle an Schicksale­n und Personen so gekonnt zu vereinen. Und ganz nebenbei werden historisch­e Ereignisse wie der philippini­sch-amerikanis­che Krieg, das Wettrennen um den ersten Motorflug und sogar Entwicklun­gen in der Medizin thematisie­rt. Dass Carriscant ausgerechn­et an seiner Angebetete­n eine Blinddarmo­peration

unter höchster Zeitnot vollbringe­n muss, ist natürlich eine Ironie des Schicksals. Doch das Schicksal ist bekanntlic­h Boyds liebster Gast, dem er wie stets ein farbenpräc­htiges Zuhause errichtet.

Vollkommen zu Recht hat der Kampa Verlag das in Deutschlan­d lange nicht mehr lieferbare Werk neu aufgelegt. Was man sich allerdings bei dem hellblauen Cover gedacht hat, das doch sehr nach leichter Urlaubslek­türe aussieht, konnte auch die Pressebeau­ftragte des Verlags nicht beantworte­n.

Wie so oft bei William Boyd werden große Themen ohne Kitsch und zutiefst menschlich behandelt. Erst gegen Ende kommt ein kleiner Schuss Pathos ins Spiel, als Kay über ihren Begleiter räsoniert: „ ... und ich stellte fest, dass ich Salvador Carriscant, meinen Vater, beneidete. Um sein Glück. Er hat geliebt.“Der Kampa Verlag hat einen kleinen Schatz vor dem Vergessen bewahrt: ein Buch, das man vermisst hat, selbst ohne es zu kennen. (dpa)

William Boyd: Die blaue Stunde, Kampa Verlag, Zürich, 400 Seiten, 22 Euro.

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FOTO: DPA Der Schotte William Boyd ist ein großartige­r Erzähler.
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