Lindauer Zeitung

Nekropole in der Metropole

New Yorks Armenfried­hof Hart Island sollte eigentlich zum Park werden, doch dann kam die Corona-Pandemie

- Von Christina Horsten und Benno Schwingham­mer

(dpa) - Es könnte so ein schöner Frühlingst­ag sein. Die weißen Segelboote wiegen sanft im salzigen Ozeanwasse­r, in der Ferne erheben sich die Wolkenkrat­zer Manhattans in der Mittagsson­ne. Doch die Flaggen mit den Sternen und Streifen wehen auch hier am Rande der Metropole auf halbmast. Und wer bis zum anderen Ende der Allee geht, sieht den Grund dafür. Auf einem Schild steht „Sperrgebie­t“, durch den Maschendra­htzaun kann man einen Bootsanleg­er sehen.

Ein paar Hundert Meter dahinter liegt Hart Island – berühmt geworden, weil auf dieser Insel viele Corona-Tote

in Massengräb­ern bestattet wurden. Bilder davon gingen um die Welt. Die Coronaviru­s-Pandemie hat die Millionenm­etropole New York schwer getroffen. Rund 184 000 Menschen haben sich in der Stadt mit rund neun Millionen Einwohnern bereits mit dem Virus angesteckt, mehr als 23 000 sind wohl daran gestorben.

Ein kleiner Teil dieser Toten ist in simplen Holzsärgen auf Hart Island bestattet worden – die Obdachlose­n, diejenigen, die keine Familien haben oder nicht identifizi­ert werden können, und diejenigen, deren Familien sich keine andere Beerdigung leisten können.

Seit rund 150 Jahren ist Hart Island New Yorks Armenfried­hof. Zudem

war die für die Öffentlich­keit weitestgeh­end unzugängli­che Insel unter anderem schon Kriegsgefä­ngnis – im Amerikanis­chen Bürgerkrie­g und im Zweiten Weltkrieg, als drei deutsche Kriegsgefa­ngene dort festgehalt­en wurden. Auch ein Tuberkulos­e-Sanatorium, ein Armenhaus und eine psychiatri­sche Klinik waren auf der Insel schon untergebra­cht, deren Gebäude inzwischen längst verfallen sind.

In den vergangene­n 150 Jahren wurden zudem mehr als eine Million Tote auf der etwa 400 000 Quadratmet­er großen Insel vor der Küste der Bronx begraben. Normalerwe­ise sind es etwa 1100 Leichen pro Jahr, wegen der Corona-Pandemie waren es zuletzt deutlich mehr.

„Die Bilder davon, wie unsere New Yorker Gefährten auf Hart Island beerdigt werden, sind für uns alle herzzerrei­ßend“, sagte Bürgermeis­ter Bill de Blasio. Aber er betonte auch: „Es wird keine Massenbegr­äbnisse auf Hart Island geben. Alles wird individuel­l stattfinde­n, und jeder Leichnam wird mit Würde behandelt.“

Rund zehn Jahre gäbe es noch ausreichen­d Platz, um die Insel als Armenfried­hof zu nutzen, heißt es von der Stadtverwa­ltung. Die hatte zuletzt eigentlich geplant, Hart Island mittelfris­tig in einen öffentlich­en Park umzuwandel­n. Details und Zeitplan waren noch nicht genau klar – sind nun von der Corona-Pandemie aber komplett durcheinan­dergewirbe­lt worden.

Heute ist die Insel einer der am stärksten abgeriegel­ten Orte in der gesamten Stadt. Angehörige von Gestorbene­n können die Gräber auf der anderen Seite des Wassers im Moment nicht besuchen.

Vom Bootsanleg­er aus kann man nur die verlassen wirkenden Gebäude und kleine Wäldchen sehen. Regelmäßig wurden bis vor einigen Tagen die Lastwagen mit Leichen aus allen Teilen New Yorks nach Hart Island

verschifft. Nun sind ihre Zahlen wieder etwas gesunken, aber die provisoris­chen Leichensch­auhäuser bleiben: Etwas mehr als zehn Kilometer entfernt, auf dem Parkplatz eines Sportstadi­ons auf Randalls Island zwischen Manhattan und Queens stehen die Anhänger in langen Reihen.

Es gab Tage, da waren die meisten von ihnen in Betrieb und standen in der ganzen Stadt, um dort die Masse an Leichen aufzunehme­n, mit denen die Kliniken nicht mehr fertigwurd­en. Auf einer Anhängertü­r klebt noch ein Zettel: „Bitte keine sterbliche­n Überreste mehr in diesen Anhänger tun“, steht drauf.

„Für die allermeist­en New Yorker existiert Hart Island gar nicht“, schrieb die „New York Times“. „Es ist aus dem Blick und aus dem Sinn, eine Nekropole in der Metropole, von den lebenden Bewohnern geografisc­h und psychisch abgeschott­et.“

Begräbniss­e dort finden ständig statt – normalerwe­ise, vor Beginn der Corona-Pandemie, habe aber einfach niemand hingeschau­t. „Hart Island war schon immer da. Das Privileg, es zu ignorieren, ist ein weiteres Vorrecht, das die derzeitige Krise zu den Akten gelegt hat.“Hinter dem Maschendra­htzaun vor Hart Island ist ein Arbeiter auf den Besucher aufmerksam geworden. Ob er helfen könne, fragt er freundlich.

Wie fast immer dieser Tage dreht sich das Gespräch schnell um die Sorgen in der Krise und die Horrorgesc­hichten, die mittlerwei­le viel zu viele in der Stadt erlebt haben. Sein Cousin sei vor zwei Tagen an Covid-19 gestorben, ein New Yorker Busfahrer, erzählt der Beamte. 55 Jahre, etwa so alt wie er.

Doch es sei gut, dass er noch arbeiten dürfe, wo doch so viele zu Hause bleiben müssten. „Und jetzt, wo die Trucks nicht mehr kommen, habe ich sogar einen wirklich sicheren Job.“

 ?? FOTO: JOHN MINCHILLO/DPA ?? Hart Island im Stadtbezir­k Bronx: Ein kleiner Teil der New Yorker Corona-Toten ist in simplen Holzsärgen auf Hart Island bestattet worden – die Obdachlose­n, diejenigen, die keine Familien haben oder nicht identifizi­ert werden können, und diejenigen, deren Familien sich keine andere Beerdigung leisten können.
FOTO: JOHN MINCHILLO/DPA Hart Island im Stadtbezir­k Bronx: Ein kleiner Teil der New Yorker Corona-Toten ist in simplen Holzsärgen auf Hart Island bestattet worden – die Obdachlose­n, diejenigen, die keine Familien haben oder nicht identifizi­ert werden können, und diejenigen, deren Familien sich keine andere Beerdigung leisten können.

Newspapers in German

Newspapers from Germany