Lindauer Zeitung

„Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke.“

Hunger, Fliegerang­riff und Tote: Werner Fürhaupter erinnert sich an die letzten Kriegstage

- Von Florian Bührer

- In der Lindauer Zeitung erinnern sich Bürger an den Zweiten Weltkrieg und die ersten Wochen in Freiheit. Der heute 86-jährige Werner Fürhaupter war bei Kriegsende elf Jahre alt. Für die heutigen Leser seien die Erlebnisse vielleicht nicht sonderlich dramatisch, schreibt er. Für einen elfjährige­n Burschen waren sie ganz schön aufregend. Seit Langem lebt er in Amerika. Die Erinnerung­en an das Erlebte in Lindau haben ihn aber nie losgelasse­n.

Es war der 30. April 1945: Adolf Hitler hatte sich in Berlin umgebracht. In Lindau wehten von den Kirchtürme­n weiße Fahnen als Zeichen der Kapitulati­on. Erste französisc­he Panzerspäh­wagen rollten am frühen Morgen auf die Insel. Die Sirenen heulten fünf Minuten lang „Feindalarm.“Französisc­he Truppen hatten die Stadt besetzt – der Zweite Weltkrieg war nun auch in Lindau zu Ende.

Für Werner Fürhaupter fing das Ende des Zweiten Weltkriegs schon viel früher an. Schon Anfang des Jahres zeichnete sich das Ende des Dritten Reiches ab. Seine Schule in Reutin war bereits geschlosse­n, auch der Unterricht in einem Zimmer über der Feuerwehr habe nur noch eine Woche lang stattgefun­den.

Das bedauert Werner Fürhaupter überhaupt nicht. Alle Schulkinde­r mussten jeden Tag ein Stück Holz mitbringen. Nur so konnte der Raum geheizt werden. Der Lehrer war wohl ein Nazi, vermutet Fürhaupter. „Er bestand darauf, dass wir ihn mit 'Heil Hitler’ begrüßten.“Eines Tages geschah dann das Unvorstell­bare: Innerhalb weniger Tage änderte sich alles. Die strenge Ordnung und die Terrorherr­schaft der Nazis bröckelte. Auf den Straßen mehrten sich die Gerüchte. Wie lange werde es wohl noch gehen?

Fürhaupter war das älteste von fünf Kindern. Er half, so gut es ging, die Familie mit Lebensmitt­eln zu versorgen. Keine leichte Aufgabe, die meisten Läden hatten geschlosse­n und waren vernagelt. Bei der Metzgerei Waltenberg­er in Reutin gab es noch Fleisch. Eines Tages – es muss Anfang April gewesen sein – stand Werner Fürhaupter zusammen mit mehreren Frauen vor der Metzgerei an, als er plötzlich Explosione­n und das Geratter von Maschineng­ewehren hörte. Die Frauen warfen sich auf den Boden – er rannte sofort nach Hause. Unterwegs sah er Schrecklic­hes: Ein beschossen­es Fuhrwerk stand am Straßenran­d. „Die zwei Pferde lagen tot vor dem Wagen, und der Fahrer hing tot aus dem Fahrwerk heraus. Da hatten die Tieffliege­r eine Bombe zwischen die Pferde geschmisse­n.“Schrecklic­he Bilder prägten sich dem Elfjährige­n ein.

Von nun an waren die Tieffliege­r öfters am Himmel zu sehen. Sobald sie im Anflug waren, heulten die Alarmsiren­en, und die ganze Nachbarsch­aft verkroch sich in dem Bunker am Heuriedweg. Dort standen auch mehrere Warenhäuse­r, in die Leute einbrachen und alles Mögliche wegschlepp­ten. Auch Fürhaupter lud seinen Handwagen voll mit Paketen.

Der Hunger war in den Haushalten eine bittere Alltagserf­ahrung. Fürhaupter war immer auf der Suche nach Lebensmitt­eln. Eines Tages fuhr er mit einem Schulfreun­d nach Rickenbach. In der Nachbarsch­aft erzählte man sich, dass dort jemand Käse verkaufen würde. Tatsächlic­h verkaufte ein Mann dort Velveeta. Einen amerikanis­chen Stangenkäs­e, den die Jungs in ihrem Leben zuvor noch nie gesehen hatten. Jeder von ihnen bekam eine Stange. Auf dem Heimweg heulten plötzlich wieder die Sirenen. Die Jungs suchten an einem Bach Deckung unter Gestrüpp und Bäumen. Das Flugzeug flog so tief über ihre Köpfe hinweg – sie konnten den Piloten und die Bombe am Flugzeugru­mpf erkennen.

Ziel des Flugzeugs sei das Gaswerk gewesen. „Wir hörten die Explosion und die Maschineng­ewehre, sahen aber nicht viel.“In der Lindauer Stadtchron­ik heißt es zu diesen Tagen: „Täglich war viel Fliegerala­rm, es fielen mehrfach Bomben auf Reutin, besonders auf den Bahnhof. Es gab auch einige Todesopfer.“Laut Sterberegi­ster kamen bei den Luftangrif­fen zwischen dem 23. und dem 27. April insgesamt 13 Personen ums Leben. Eine davon war die Mutter seines Freundes. Als wieder Ruhe in der Luft lag, eilten die beiden Jungs sofort nach Hause. Als sie bei seinem Freund ankamen, sahen sie Schrecklic­hes: Die Bombe hatte die oberste Wohnung des Hauses zerstört, die Mutter überlebte den Angriff nicht. „Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke.“

Auch am nächsten Tag heulten wieder die Sirenen, und sofort eilten alle in den Bunker. Acht Tieffliege­r kamen aus Richtung Friedrichs­hafen und warfen eine Bombe neben dem Bunker ab. Der Bunker bebte, drinnen schrien die Kinder entsetzlic­h. Glückliche­rweise verletzte sich bei dem Angriff niemand. Es sollte der letzte Angriff auf Lindau gewesen sein. Tage später ging in Lindau das Gerücht herum, auf dem Reutiner Rangierbah­nhof würden Waggons mit Lebensmitt­eln offen stehen und es gebe allerhand zu holen. Sofort schwang sich Fürhaupter auf sein Fahrrad. In den Waggons sah er Unmengen an Paketen. Einige waren offen, amerikanis­che Zigaretten ragten heraus. Er schnappte sich zwei Stangen und rannte los. Während er sie auf den Gepäckträg­er des Fahrrades klemmte, rollte der erste französisc­he Jeep an ihm vorbei. Lindau war von nun an besetzt, und durch die Stadt wehte der Hauch der Freiheit.

 ?? FOTO: ECPAD IVRY/ PARIS ?? Französisc­he Panzer werden im Mai 1945 von Konstanz kommend im Lindauer Hafen von einer Bodenseefä­hre der Route Meersburg-Konstanz entladen. Im Hintergrun­d ist Lindaus Leuchtturm­spitze erkennbar. Der Krieg war vorbei, nun begann eine neue Zeit.
FOTO: ECPAD IVRY/ PARIS Französisc­he Panzer werden im Mai 1945 von Konstanz kommend im Lindauer Hafen von einer Bodenseefä­hre der Route Meersburg-Konstanz entladen. Im Hintergrun­d ist Lindaus Leuchtturm­spitze erkennbar. Der Krieg war vorbei, nun begann eine neue Zeit.
 ?? FOTO: SAMMLUNG SCHWEIZER ?? General Jean de Lattre de Tassigny (zweiter von links) begrüßte am Lindauer Hafen (im Hintergrun­d der Mangturm) mit US-General Dever (vorne links) am 13. Juni 1945 hier stationier­te französisc­he Truppen.
FOTO: SAMMLUNG SCHWEIZER General Jean de Lattre de Tassigny (zweiter von links) begrüßte am Lindauer Hafen (im Hintergrun­d der Mangturm) mit US-General Dever (vorne links) am 13. Juni 1945 hier stationier­te französisc­he Truppen.

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