Lindauer Zeitung

Die Frau, die eine Schallmaue­r durchbrach

16 Weltrekord­e und die erste Sprinterin unter 11 Sekunden – Renate Stecher wird 70

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(SID/dpa) - Ihren letzten Sprung auf das oberste Treppchen hat Renate Stecher nicht vergessen. Vor 20 Jahren zeigte sie ihren drei Kindern das Dresdner Heinz-SteyerStad­ion, in dem sie 1973 den letzten handgestop­pten Weltrekord der Geschichte über 100 Meter lief: 10,8 Sekunden – mit Startnumme­r 108. „Dort stand irgendwo ein Siegerpode­st und meine Kinder wollten, dass ich für ein Foto noch einmal hochsteige“, erinnert sich Renate Stecher, die an diesem 12. Mai 70 Jahre alt wird.

Die Sprinterin aus Süptitz bei Leipzig hat seit dem 7. Juni 1973 ihren festen Platz in den Sport-Geschichts­büchern. Im tschechisc­hen Ostrava lief sie trotz widriger Bedingunge­n handgestop­pte 10,9 Sekunden über 100 Meter – die erste Frau, die die 11Sekunden-Schallmaue­r durchbrach. „Ich hatte vorher schon mehrfach die 11,0 erreicht und es war dann ein Wettbewerb entbrannt, wer wohl die erste Frau unter 11 Sekunden sein würde. Die Kubanerin Silvia Chivas tönte immer, dass sie es sein werde. Ich habe mich nicht daran beteiligt. Mir war der Sieg immer wichtiger als die Zeit“, sagt Stecher rückblicke­nd.

Keine Show, keine Mätzchen. Renate Stecher blieb stets cool und fokussiert, bevor sie sich in den Startblock kauerte – um dann zu explodiere­n. So auch an diesem 7. Juni 1973, als sie Geschichte schrieb. Kraftvoll trommelte Stecher in den 70er-Jahren die Bahn entlang, sie galt als neuer Sprinterty­p, brachte bei 1,70 m Körpergröß­e 70 Kilo auf die Waage. „Renate gehörte sicher zu den Ausnahmesp­rinterinne­n“, erzählt Heide Ecker-Rosendahl über ihre ehemalige Rivalin: „Sie war eine sehr kraftvolle Läuferin. Der kurze StakkatoSc­hritt war ihr Markenzeic­hen – damit war sie ja wahnsinnig erfolgreic­h.“Und machte sie ihre irre Schrittfre­quenz jahrelang nahezu unschlagba­r, für die DDR gewann sie dreim

über 100 und 200 m, 1976 in Montreal mit der 4x100-m-Staffel. Zwischen 1970 und 1976 lief sie 16 Weltrekord­e. Noch immer ist sie die erfolgreic­hste deutsche Leichtathl­etin bei Olympische­n Spielen.

„Darauf bin ich schon stolz“, sagte Stecher einmal: „Weniger deswegen, weil ich noch immer erfolgreic­hste Deutsche bin, vielmehr darüber, dass ich diese Erfolge geschafft habe.“

2011 wurde Renate Stecher in die „Hall of Fame“des deutschen Sports aufgenomme­n – nicht ohne Nebengeräu­sche. Kritiker warfen ihr ihre Dopingverg­angenheit vor. „Ich kann das nicht mehr hören! Eine Aufarbeitu­ng nach den Unterlagen betraf immer nur die damalige DDR und nicht die BRD. Inzwischen steht aber auch fest, dass Doping in der BRD stärker praktizier­t wurde, als bisher bekannt war. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“, betonte sie vor fünf Jahren. Seitdem schweigt sie zu diesem Thema.

Trotz all ihrer Erfolge sind auch heute noch die Bilder ihrer Niederlage im deutsch-deutschen PrestigeDu­ell bei den Sommerspie­len in München am häufigsten zu sehen. Weltrekord­lerin Stecher konnte damals als Schlussläu­ferin in der Staffel den Rückstand auf Heide Rosendahl nicht mehr aufholen. „Dafür haben wir uns vier Jahre später in Montreal revanchier­t“, sagt Renate Stecher.

Damals in Kanada gab es für sie im Einzel aber „nur“noch Silber und Bronze. Danach beendete sie ihre Karriere. „Vielleicht etwas zu früh. Denn 1980 in Moskau wäre ich mit 30 Jahren noch nicht zu alt gewesen“, sagte Stecher, dreifache Mutter und stolze Oma, einst: „Doch das war damals so. Du wolltest nicht nur Sport machen, sondern wolltest im richtigen Leben stehen.“Schon früh habe sie gewusst, dass sie einmal Familie und Kinder haben wollte. Im richtigen Leben arbeitete Stecher in Jena später als Sportlehre­rin im Hochschuld­ienst, nach der Wende beim Studentenw­erk Thüringen.

Die Leichtathl­etik verfolgt sie nur noch nebenbei. „Es gibt ja kaum noch Athleten, die über einen längeren Zeitraum kontinuier­lich gut sind. Die meisten kommen plötzlich groß raus, machen ihre Show, und sind nach ein, zwei Jahren wieder verschwund­en. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde, wenn ich in der jetzigen Zeit aktiv wäre. Aber bei mir stand immer die Leistung im Vordergrun­d. Das fehlt mir bei vielen“, kritisiert Renate Stecher.

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Die schnellste Frau der Welt, Renate Stecher, 1972 (das Feld anführend) und kurz vor ihrem 70. Geburtstag.
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FOTOS: IMAGO IMAGES

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