Lindauer Zeitung

„Abstand einzuhalte­n, ist unmöglich“

Lebenshilf­e-Geschäftsf­ührer berichtet über die Corona-Situation in den Wohngruppe­n

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- Abstand halten, Maske tragen, wenig Kontakt zu anderen Menschen. Was die meisten Bürger in Corona-Zeiten befolgen, ist für geistig behinderte Menschen oft schwer verständli­ch: Sie ziehen Masken ab, halten Abstand nicht ein, wollen vertraute Gesichter sehen. Corona hat auch bei der Lebenshilf­e im Westallgäu viel verändert: Die Werkstätte­n mussten schließen, viele der behinderte­n Menschen mussten Zuhause bleiben, für diejenigen in den Wohngruppe­n stand sogar ein Umzug an. Geschäftsf­ührer Frank Reisinger berichtet im Interview mit Leonie Küthmann, wie die Pandemie die Mitarbeite­r und die Menschen, die der Verein betreut, getroffen hat.

Herr Reisinger, alle Bewohner aus dem Wohnheim Röthenbach und eine Gruppe aus dem Wohnheim Lindenberg sind ins Ferienheim Scheffau umgezogen. War das durch Corona bedingt?

Frank Reisinger: Ja, genau. Wir wussten ja nicht, wie dramatisch das alles wird. Wir waren voll belegt, wäre dann jemand an Covid-19 erkrankt, hätten wir ein großes Problem gehabt. Wir brauchten also mehr Platz. Ich wusste noch, dass das Ferienwohn­heim in Scheffau seit einigen Monaten leer steht und habe bei den Untermarch­taler Schwestern angerufen, die dort vor Kurzem weggezogen sind. Das lief dann alles ganz unkomplizi­ert, und für uns sind die Räume natürlich ideal.

Weshalb?

Reisinger: Es sind alles Einzelzimm­er mit Dusche und Bad, außerdem gibt es einen großen Garten.

Wie haben die Heimbewohn­er diese Veränderun­g aufgenomme­n?

Reisinger: Manchen fiel es leicht, andere hatten Probleme. Letztlich haben es aber alle gut akzeptiert, und vor allem die Angehörige­n sind froh, dass das Risiko minimiert wurde.

Für die Angehörige­n muss das auch eine große Belastung sein.

Reisinger: Ja, es hat sich vieles massiv verändert. Allerdings muss man das differenzi­ert sehen. Da die Frühförder­ung auf null gefahren wurde, sind die Eltern teilweise alleine zu Hause mit einem Kind, von dem man noch gar nicht weiß, ob es geistig behindert oder verhaltens­auffällig ist. Sie waren da irgendwie alleine gelassen, denn unterstütz­en konnten wir da anfangs nur mithilfe von Videoanruf­en.

Was ist mit den Angehörige­n älterer Kinder?

Reisinger: Die Vorschulki­nder waren ebenfalls zu Hause und auch Behandlung­en wie Physiother­apie oder Logopädie waren nicht erlaubt. Das ist zunächst einmal nicht lebensgefä­hrlich, aber ein Kind verlernt natürlich sprachlich wieder Einiges, wenn es mehrere Wochen keine logopädisc­hen Übungen macht. Und für Eltern, deren Kinder üblicherwe­ise in der Schule oder der Tagesstätt­e sind, ist die Situation natürlich auch belastend. Sie müssen sich rund um die Uhr kümmern.

Das geht vermutlich momentan vielen Eltern so.

Reisinger: Ich weiß, dass diese Zeit für alle Eltern schwer ist, aber ein behinderte­s Kind braucht deutlich mehr Betreuung. Und man kann es nicht so einfach beschäftig­en oder mal sagen: „Geh doch in den Garten zum Spielen.“

Was gibt es denn für Lösungsans­ätze?

Reisinger: Wir haben versucht, sozusagen eine mobile Betreuung einzuricht­en und mehr Personal in Familien zu schicken, in denen es eher Probleme gibt. Außerdem haben wir auch Notgruppen für Kinder gemacht, deren Eltern die tägliche Versorgung nicht mehr stemmen können. Denn diese Problemati­k trifft auch auf die vielen Eltern zu, die ihre erwachsene­n geistig behinderte­n Angehörige­n in den Werkstätte­n haben, die ebenfalls geschlosse­n werden mussten. Eigentlich gibt es diese Gruppen ja nur für Kinder, deren Eltern „systemrele­vant“sind.

Wie klappt es denn mit den Hygienevor­schriften in den Gruppen?

Reisinger: Manche Kinder tragen eine Maske, nicht alle. Das Personal natürlich schon. Den Abstand einzuhalte­n, ist unmöglich. Das Personal geht aber mit den Kindern gleich nach der Ankunft gemeinsam zum Händewasch­en. Außerdem wird bei jedem Kind die Temperatur gemessen.

Wie sieht das denn bei den Erwachsene­n aus: Klappt das mit den Hygienereg­elungen in den Wohngruppe­n?

Reisinger: Da klappt es ganz gut. Wir haben für die Wohngruppe­n auch mehrere Notfallplä­ne entwickelt, falls jemand mit dem Coronaviru­s infiziert ist.

Gab es denn bisher Fälle?

Reisinger: Es gab mehrere Fälle beim Personal. Ganz klassisch: Die Familien waren beim Skifahren und haben sich da infiziert. In den Wohngruppe­n hatten wir bisher noch keinen Fall, allerdings hatte ein Bewohner Fieber und Husten. Was normalerwe­ise als leichte Lungenentz­ündung gesehen wird, hat dieses Jahr gleich Hochalarm ausgelöst. Die gesamte Wohngruppe wurde sofort als „Quarantäne­gruppe“in Kohorten-Isolation betreut, der Bewohner wurde in seinem Zimmer einzeln isoliert und hat das auch verstanden ....

...was viele andere wahrschein­lich nicht können ...

Reisinger: Ja, in so einem Fall müssten wir den Bewohner „einsperren“, dafür brauchen wir einen richterlic­hen Bescheid. Da ist dann natürlich immer die Frage, was wichtiger ist: die Isolation oder, dass jemand eingesperr­t wird, selbst wenn es nur ein Verdachtsf­all ist. Für das Personal bedeutet das auch doppelte Organisati­on – in einem solchen Fall brauchen wir beispielsw­eise einen zweiten Nachtbetre­uer.

Ein anderer Aspekt: Üblicherwe­ise arbeiten viele Bewohner in den Werkstätte­n der Lebenshilf­e. Das geht aber momentan nicht, richtig?

Reisinger: Genau. Wir haben aber bei den Wohnheimen in Lindau und Lindenberg jeweils Zelte in den Garten gestellt und die Arbeit aus den Werkstätte­n hergebrach­t. Letztlich geht es da auch darum, die Bewohner zu beschäftig­en, die werden sonst kirre.

Wie ist denn die Stimmung in den Wohngruppe­n?

Reisinger: Das Personal hat sich viel einfallen lassen, beispielsw­eise haben alle zusammen einen Maibaum aufgestell­t. Außerdem haben wir Tablets angeschaff­t, dass die Bewohner ihre Angehörige­n per Videoanruf kontaktier­en können. Die Stimmung ist daher also auch wirklich gut. Viele unserer Mitarbeite­r, die üblicherwe­ise in den Werkstätte­n, der Tagesstätt­e oder der Frühförder­ung arbeiten, werden nun in den Wohngruppe­n eingesetzt – und alle haben das flexibel und motiviert angenommen. Ohne die gute Stimmung unter den Mitarbeite­rn, wäre das alles nicht so gut gelaufen.

Und wie geht es nun weiter?

Reisinger: Da müsste ich wohl in die Glaskugel schauen. Klar ist: Wenn alle Mitarbeite­r vonseiten der Regierung wieder in die Werkstätte­n kommen und arbeiten dürfen – was in dem Fall oft „müssen“heißt – brauchen wir mehr Platz. Wir haben ein Konzept, das muss aber vom Bezirk noch hinsichtli­ch der Kosten abgesegnet werden. Es gibt viele Vorgaben, viel Unsicherhe­it und immer die Frage: Wie lange geht das alles?

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FOTOS: LEBENSHILF­E Der Alltag in der Corona-Zeit geht – so weit es möglich ist – weiter.
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Frank Reisinger

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