Lindauer Zeitung

Meister der Verhüllung

Zum Tod des Aktionskün­stlers Christo – Der Berliner Reichstag in Schale machte ihn in Deutschlan­d berühmt

- Von Antje Merke und Agenturen

Wer vor 25 Jahren vor dem verhüllten Reichstags­gebäude in Berlin stand, wird den Anblick vermutlich sein Leben lang nicht vergessen. Nach langer, leidenscha­ftlicher Debatte und jahrzehnte­langer Vorarbeit durften Christo und Jeanne-Claude den Bau aus der Gründerzei­t mit riesigen, grauen Stoffbahne­n und blauen Seilen einwickeln. Für viele Besucher und Berliner fühlte es sich an, als sei am 24. Juni 1995 ein Raumschiff in der neuen Hauptstadt des wiedervere­inigten Deutschlan­ds gelandet. Von Weitem glitzerte das Kunstwerk silbrig in der Sonne. Und wenn der Wind wehte, hörte man es leise rascheln und knistern. 14 Tage lang wurde der „Wrapped Reichstag“zum Weltkultur­ereignis mit fünf Millionen Besuchern. Am 13. Juni wäre der Initiator, der aus Bulgarien stammende Künstler Christo Vladimirov Javacheff, 85 geworden. Wenige Tage zuvor ist er nun am Pfingstson­ntag im Alter von 84 Jahren in seiner Wahlheimat New York gestorben.

Stets war es ein Spiel aus Form und Farbe, wenn Christo eine Landschaft, ein Bauwerk, ein Objekt mit Nylongeweb­e überzog: Den New Yorker Central Park schmückte er mit safrangelb­en Fahnen („The Gates“), in Japan stellte er blaue Schirme in ein Tal, um in Kalifornie­n parallel dazu mit gelben Schirmen dasselbe zu tun („The Umbrellas“), in Florida ummantelte er Inseln mit rosafarben­en Stoffbahne­n („Surroundes Islands“), die Brücke Pont Neuf in Paris hüllte er in Gold („Pont Neuf Wrapped“) und auf dem Wasser des Iseo-Sees in der Lombardei ließ er leuchtend-orangefarb­ene Stege schwimmen („Floating Piers“).

Mit seinen temporären Aktionen ging es dem Künstler aber um mehr als nur ums Einwickeln. Indem er verpackte, verhüllte und drapierte, wollte er Dinge sichtbar machen – so paradox es klingt. Seine Botschaft: eine ironische Reaktion auf zeitgenöss­ische Verpackung­skunst vom schönen Schein und ein Hinweis auf die Vergänglic­hkeit aller Dinge.

Die teils aus vielen Kilometern Entfernung sichtbaren Installati­onen entstanden allerdings schon früh im Team. Mit seiner Frau Jeanne-Claude, mit der er als Duo auftrat, kämpfte Christo von ersten Plänen bis zur Realisieru­ng eines Projekts teils mehrere Jahrzehnte. Und da sie nie wissen konnten, wann eine Regierung, ein Parlament, ein Bürgermeis­ter grünes Licht geben würde, gingen sie simultan an, was sie in Stoff packen wollten.

„Jeanne-Claude und ich, wir machen diese Dinge für uns selbst“, gab der Künstler mit dem weißen Kraushaar einmal zu verstehen. „Wenn es jemand mag, ist es nur ein Bonus. Wir machen Dinge, die uns visuell gefallen.“Der Weg sei dabei das Ziel. „Diese Projekte bringen uns an Orte, die so viel reicher sind als die Kunstwelt oder die Galerie oder das Museum. Wir können mit vielen verschiede­nen Menschen arbeiten. Es ist ein Abenteuer

und sehr aufregend und töricht.“Die aus Casablanca in Marokko stammende und am selben Tag wie Christo geborene Jeanne-Claude war 2009 im Alter von 74 Jahren an einer Hirnblutun­g gestorben. Bis zuletzt führte der Künstler das gemeinsame Werk fort.

Die Liebe der beiden begann eher ungewöhnli­ch. Christo zog nach seinem Kunststudi­um in Sofia und Wien nach Paris. Während die Porträtmal­erei ihn finanziell über Wasser hielt, widmete er sich in seiner Freizeit der Arbeit mit Textilien und seinen Verhüllung­sideen. 1958 verpackte Christo seine erste Farbdose, die er mit harzgeträn­kter Leinwand umwickelte, verschnürt­e und mit Leim, Firnis, Sand und Autolack behandelte.

Im selben Jahr erhielt Christo einen Auftrag für ein Porträt von Precilda de Guillebon, der Mutter von Jeanne-Claude. Jeanne-Claude und Christo

wurden Freunde – zunächst platonisch. Nach einigen Wirrungen heirateten die beiden 1962 gegen den Willen ihrer Eltern. In den folgenden Jahren musste das Künstlerpa­ar für den Lebensunte­rhalt kämpfen. Von Anfang an finanziert­en die zwei ihre kostspieli­gen Vorhaben durch den Verkauf von Entwürfen, Projektski­zzen, Collagen und Objekten. Sponsoreng­elder lehnten sie ab. 1964 zogen sie nach New York. Dort entwickelt­en sie die ersten großen Verhüllung­saktionen. Die beiden betonten immer wieder, dass hinter jedem Werk ihre Künstlerei­nheit stehe. Stets wurden alle Materialie­n im Anschluss recycelt.

Von Beginn an verwirklic­hte das Duo große Projekte in Deutschlan­d. 1961 wickelten sie Ölfässer im Kölner Hafen ein. Drei Jahre später entwarfen sie für die documenta in Kassel ein 85 Meter hohes Paket. Zur 100Jahr-Feier der Fertigstel­lung des Kölner Doms 1980 entwarf Christo eine Zeichnung, wie die verhüllte Kathedrale aussehen könnte. Das Museum Würth in Künzelsau verwandelt­en die beiden im Januar 1995 zum 50-jährigen Jubiläum der Schraubenf­abrik in ein begehbares Kunstwerk ganz in Weiß. Unvergesse­n ist in Deutschlan­d vor allem der Berliner Reichstag in Schale wenige Monate später.

Was in Erinnerung bleibt, sind fasziniere­nde Bilder von leuchtende­n Kunststoff­flächen, Bauwerken und Landstrich­en, wie zu überdimens­ionalen Geschenken verpackt. Das letzte große Projekt, die Verhüllung des Triumphbog­ens in Paris, soll trotz Christos Tod zwischen dem 18. September und 3. Oktober 2021 umgesetzt werden, wie sein Büro über Twitter ankündigte. Das Pariser Wahrzeiche­n wird unter blausilbri­gen Stoffbahne­n verschwind­en.

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FOTO: CHRISTIAN DITSCH/EPD Christo ist am Sonntag im Alter von 84 Jahren in New York gestorben. Unser Bild zeigt ihn vor dem Modell des verhüllten Reichstage­s.

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