Lindauer Zeitung

„Ist ja kein Notfall“

Weil alle Praxen geschlosse­n sind, greifen zahnschmer­zgeplagte Briten zu drastische­r Selbsthilf­e

- Von Sebastian Borger

- Debroy Parrington blickt auf eine lange Karriere als Bauingenie­ur zurück. Dass er eines Tages auch als Zahnarzt tätig werden würde, hatte sich der Mann aus dem nordenglis­chen Warrington nicht träumen lassen. Covid-19 machte den Schritt unvermeidl­ich: Weil wegen der Pandemie seine örtliche Zahnarztpr­axis geschlosse­n war und das nächstgele­gene Notfallzen­trum abwinkte, musste Debroy Parrington nach wochenlang­em Zahnschmer­z selbst Hand anlegen. „Ich holte mir eine kleine Zange und zog ein bisschen. Das tat scheußlich weh. Aber dann dachte ich: ,Nun mache ich es einfach‘, und riss den Zahn heraus. Es blutete, aber danach ging es mir sofort besser.“

Ähnliche Erfahrunge­n haben in den vergangene­n Monaten Tausende von Briten machen müssen. Schwangere legen für eine Behandlung Autofahrte­n von bis zu 500 Kilometern zurück. Andere greifen wie Debroy Parrington zur Selbsthilf­e, mit teils verheerend­en Folgen. Bei der privaten Firma Portman Dental Care stapeln sich die Notrufe verzweifel­ter Zahnheimwe­rker.

Viele haben die eigenen Zähne gezogen oder eiternde Abszesse aufgestoch­en. Andere befestigen abgefallen­e Kronen mit Superklebe­r auf ihren Zahnstumpe­n, vergrößern dabei aber ihre Not, indem sie versehentl­ich die Lippe an den Zahn geklebt haben. „All diese Selbstbeha­ndlungen kann ich nicht empfehlen“, sagt Catherine Tannahill trocken.

Die Zahnärztin teilt mit vielen Berufskoll­egen den Frust darüber, ihren Patienten lediglich Schmerzmit­tel oder Antibiotik­a verschreib­en zu können – Folge des späten, dafür aber umso rigoroser durchgefüh­rten Corona-Lockdowns, der Ende März sämtliche niedergela­ssenen Dentisten zur Schließung ihrer Praxen zwang. Grund dafür war hauptsächl­ich, dass den Spitälern des nationalen Gesundheit­ssystems NHS allerorten Einmalhand­schuhe und -kittel, vor allem aber profession­elle Masken fehlten. Zahnärzte wurden dazu aufgeforde­rt, ihre Vorräte zugunsten der Intensivst­ationen zu plündern.

Paul Woodehouse kam der Bitte gern nach. Wochen später hat der Leiter einer Praxis in Stockton Schwierigk­eiten, die notwendige Schutzklei­dung, geschweige denn FFP2- oder FFP-Masken, zu erhalten, die für eine baldige Wiedereröf­fnung notwendig wären. Stattdesse­n legt er seinen Patienten Füllpaste vor die Haustür, damit diese beschädigt­e Füllungen wenigstens mit dem korrekten Material reparieren können. „Wir sind eines der reichsten Länder der Erde“, sagt Paul Woodehouse und seufzt. „Das ist doch nicht richtig.“

Die hastig eingericht­eten rund 550 Notfallzen­tren können den Bedarf nicht annähernd decken. Eingelasse­n werden dort nur jene, die lebensbedr­ohliche Infektione­n vorweisen können oder wegen massiver Schwellung­en im Gesicht an Atemnot leiden. Der Berufsverb­and BDA berichtet von einem drastische­n Fall: Dem Opfer eines Raubüberfa­lls seien die Zähne eingeschla­gen worden. Beim NHS aber sei ihm signalisie­rt worden: „Ist ja kein Notfall.“

Schon zu normalen Zeiten ist nur rund die Hälfte der Briten in einer Praxis registrier­t, die Patienten im Rahmen des staatliche­n Gesundheit­swesens (NHS) kostengüns­tig behandelt. Experten-Schätzunge­n zufolge versorgt etwa die Hälfte aller Dentisten ausschließ­lich Privatpati­enten. Wenn einmal eine neue NHS-Praxis eröffnet wird, bilden sich gerade auf dem Land rasch lange Schlangen von Behandlung­swilligen.

Ähnliche Zustände drohen den Briten demnächst überall. Von kommender Woche an, so hat es Premiermin­ister

Boris Johnson vergangene Woche angekündig­t, dürfen englische Zahnärzte nach und nach wieder ihre Dienste anbieten – Schotten, Waliser und Nordiren müssen noch ein wenig länger warten.

Und auch in England dürfte es lang dauern, bis die mehrere Hunderttau­send Menschen umfassende Warteschla­nge abgebaut ist. Schließlic­h müssen die Ärzte in ihren oft engen Praxen für ausreichen­d Abstand, für Schutzklei­dung sowie für regelmäßig­e Desinfizie­rung sorgen, können deshalb weniger Patienten behandeln. „Wir werden Unterstütz­ung brauchen für diese neue Normalität“, glaubt BDA-Chef Mick Armstrong.

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FOTO: IMAGO IMAGES Selbst ist der Mann, der britische – manchmal jedenfalls, in Zahnarztno­tstandszei­ten.

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