„Ist ja kein Notfall“
Weil alle Praxen geschlossen sind, greifen zahnschmerzgeplagte Briten zu drastischer Selbsthilfe
- Debroy Parrington blickt auf eine lange Karriere als Bauingenieur zurück. Dass er eines Tages auch als Zahnarzt tätig werden würde, hatte sich der Mann aus dem nordenglischen Warrington nicht träumen lassen. Covid-19 machte den Schritt unvermeidlich: Weil wegen der Pandemie seine örtliche Zahnarztpraxis geschlossen war und das nächstgelegene Notfallzentrum abwinkte, musste Debroy Parrington nach wochenlangem Zahnschmerz selbst Hand anlegen. „Ich holte mir eine kleine Zange und zog ein bisschen. Das tat scheußlich weh. Aber dann dachte ich: ,Nun mache ich es einfach‘, und riss den Zahn heraus. Es blutete, aber danach ging es mir sofort besser.“
Ähnliche Erfahrungen haben in den vergangenen Monaten Tausende von Briten machen müssen. Schwangere legen für eine Behandlung Autofahrten von bis zu 500 Kilometern zurück. Andere greifen wie Debroy Parrington zur Selbsthilfe, mit teils verheerenden Folgen. Bei der privaten Firma Portman Dental Care stapeln sich die Notrufe verzweifelter Zahnheimwerker.
Viele haben die eigenen Zähne gezogen oder eiternde Abszesse aufgestochen. Andere befestigen abgefallene Kronen mit Superkleber auf ihren Zahnstumpen, vergrößern dabei aber ihre Not, indem sie versehentlich die Lippe an den Zahn geklebt haben. „All diese Selbstbehandlungen kann ich nicht empfehlen“, sagt Catherine Tannahill trocken.
Die Zahnärztin teilt mit vielen Berufskollegen den Frust darüber, ihren Patienten lediglich Schmerzmittel oder Antibiotika verschreiben zu können – Folge des späten, dafür aber umso rigoroser durchgeführten Corona-Lockdowns, der Ende März sämtliche niedergelassenen Dentisten zur Schließung ihrer Praxen zwang. Grund dafür war hauptsächlich, dass den Spitälern des nationalen Gesundheitssystems NHS allerorten Einmalhandschuhe und -kittel, vor allem aber professionelle Masken fehlten. Zahnärzte wurden dazu aufgefordert, ihre Vorräte zugunsten der Intensivstationen zu plündern.
Paul Woodehouse kam der Bitte gern nach. Wochen später hat der Leiter einer Praxis in Stockton Schwierigkeiten, die notwendige Schutzkleidung, geschweige denn FFP2- oder FFP-Masken, zu erhalten, die für eine baldige Wiedereröffnung notwendig wären. Stattdessen legt er seinen Patienten Füllpaste vor die Haustür, damit diese beschädigte Füllungen wenigstens mit dem korrekten Material reparieren können. „Wir sind eines der reichsten Länder der Erde“, sagt Paul Woodehouse und seufzt. „Das ist doch nicht richtig.“
Die hastig eingerichteten rund 550 Notfallzentren können den Bedarf nicht annähernd decken. Eingelassen werden dort nur jene, die lebensbedrohliche Infektionen vorweisen können oder wegen massiver Schwellungen im Gesicht an Atemnot leiden. Der Berufsverband BDA berichtet von einem drastischen Fall: Dem Opfer eines Raubüberfalls seien die Zähne eingeschlagen worden. Beim NHS aber sei ihm signalisiert worden: „Ist ja kein Notfall.“
Schon zu normalen Zeiten ist nur rund die Hälfte der Briten in einer Praxis registriert, die Patienten im Rahmen des staatlichen Gesundheitswesens (NHS) kostengünstig behandelt. Experten-Schätzungen zufolge versorgt etwa die Hälfte aller Dentisten ausschließlich Privatpatienten. Wenn einmal eine neue NHS-Praxis eröffnet wird, bilden sich gerade auf dem Land rasch lange Schlangen von Behandlungswilligen.
Ähnliche Zustände drohen den Briten demnächst überall. Von kommender Woche an, so hat es Premierminister
Boris Johnson vergangene Woche angekündigt, dürfen englische Zahnärzte nach und nach wieder ihre Dienste anbieten – Schotten, Waliser und Nordiren müssen noch ein wenig länger warten.
Und auch in England dürfte es lang dauern, bis die mehrere Hunderttausend Menschen umfassende Warteschlange abgebaut ist. Schließlich müssen die Ärzte in ihren oft engen Praxen für ausreichend Abstand, für Schutzkleidung sowie für regelmäßige Desinfizierung sorgen, können deshalb weniger Patienten behandeln. „Wir werden Unterstützung brauchen für diese neue Normalität“, glaubt BDA-Chef Mick Armstrong.