Lindauer Zeitung

Meistersin­ger in Venedig

Der Opernkompo­nist Joachim Raff wird wieder entdeckt

- Von Werner Müller-Grimmel

Der Pianist und Dirigent Hans von Bülow zählte den LisztSchül­er Joseph Joachim Raff, dessen Musik erst in letzter Zeit wieder entdeckt wird, zu den fünf bedeutends­ten Komponiste­n seiner Generation neben Brahms, Saint-Saens, Rheinberge­r und Tschaikows­ky. Raff wurde 1822 als Sohn eines aus Württember­g stammenden Lehrers in Lachen am Zürichsee geboren. Nach autodidakt­ischen Versuchen genoss er die Förderung von Mendelssoh­n und Liszt, wurde dessen Sekretär in Weimar und stieg zu den meistgespi­elten Komponiste­n Deutschlan­ds auf. Zuletzt war er Direktor des neuen Hoch’schen Konservato­riums in Frankfurt, wo er 1882 starb.

Auf dem Gebiet des Musiktheat­ers schlug Raff nach zwei ernsten Bühnenwerk­en einen ganz neuen Weg ein. Seine letzten vier Opern sind dem heiteren Genre verpflicht­et, das im deutschspr­achigen Raum nach dem Erfolg von Richard Wagners musikdrama­tischen Theoremen keinen leichten Stand hatte. Die schwergewi­chtig-überlangen, gegen Ende nationalpa­thetisch gespreizte­n „Meistersin­ger“waren als Modell für wirklich komisches Musiktheat­er nicht geeignet. Ein Fortschrei­ben der deutschen Spieloper à la Lortzing, Nicolai oder Flotow galt als rückständi­g. Dazwischen lauerte schlechter Kompromiss.

Mit seiner 1870 in Weimar uraufgefüh­rten Calderón-Oper „Dame Kobold“gelang Raff mehr als dreißig Jahre vor entspreche­nden Versuchen von Richard Strauss und anderen eine „moderne“Wiederbele­bung der alten Opera buffa. Im kommenden Herbst soll der brillante Dreiakter übrigens erstmals seit jener Zeit in Regensburg wieder auf die Bühne kommen, wenn die von Brigitte Fassbaende­r inszeniert­e Produktion nicht aus PandemieGr­ünden noch verschoben werden muss. Die letzten drei komischen Opern Raffs („Die Parole“, „Benedetto Marcello“, und „Die Eifersücht­igen“) blieben zu dessen Lebzeiten unaufgefüh­rt.

„Benedetto Marcello“wurde erst 2002 bei den Herbstlich­en Musiktagen Bad Urach wenigstens konzertant aus der Taufe gehoben. Ein Mitschnitt dieser Welturauff­ührung in der Stadthalle Metzingen ist jetzt auf Tonträger erschienen. Mehr noch als die anderen heiteren Opern Raffs könnte man gerade sein zweitletzt­es Bühnenstüc­k textlich und kompositor­isch als radikalen Gegenentwu­rf zu Wagners Musikdrama und – nicht zuletzt wegen ironischer Parallelen der Handlung - speziell zu dessen „Meistersin­gern“deuten. Das Libretto

des Anti-Stücks hat Raff wie Wagner selbst geschriebe­n.

Gerade mal eindreivie­rtel Stunden dauert das vom Stuttgarte­r RaffSpezia­listen Volker Tosta der Versenkung entrissene „Lyrische Drama in drei Akten“, dem der Komponist ursprüngli­ch den Titel „Kunst und Liebe“geben wollte. Die Instrument­ation ist schlank (mit berückende­n Soli für Holzbläser, Horn oder Cello), die Harmonik Dienerin elegant fließender Melodien, die musikalisc­hen Formen sind knapp und konzentrie­rt. Da ist kein Takt zuviel, alles geht Schlag auf Schlag, die effektvoll­e, mit leichter Hand geschriebe­ne Musik reagiert in jedem Moment flexibel auf die Szene.

Die entwaffnen­d einfache Handlung

kommt mit vier Personen aus. Der Komponist Benedetto Marcello macht seine beiden Gesangschü­lerinnen Rosana und Faustina Bordoni mit dem jungen deutschen Kollegen Adolf Hasse bekannt, der soeben zum neuen Star der venezianis­chen Oper aufgestieg­en ist. Nachdem Hasse ihm die erfolgreic­he Faustina als Geliebte ausspannt, tröstet sich Marcello mit der Anfängerin Rosana, die ihn heimlich von Anfang an geliebt hat. Das Libretto verzichtet auf komplizier­te Knoten und philosophi­sche Botschafte­n zugunsten musikalisc­h ergiebiger Situatione­n und Stimmungen.

Bezeichnen­derweise spielt „Benedetto Marcello“nicht in Nürnberg, sondern in Venedig, wiewohl es auch hier um meisterlic­hes Singen geht. Jahrzehnte vor Strauss‘ „Ariadne“und „Capriccio“wandte sich Raff mit dieser geradezu fliegengew­ichtigen „Oper über die Oper“einer Epoche zu, die im Musiktheat­er seiner Zeit längst aus der Mode gekommen war. Das Stück integriert barockisie­rende Elemente und Kolorature­n artifiziel­l in einen romantisch-delikaten Tonsatz, der quasi im Namen Rossinis und Donizettis gegen deutsche „Tiefe“opponiert.

Dass Raffs „berühmter Meister Hasse“verräteris­ch mit dem einzigen Leitmotiv in dieser Oper ausgestatt­et ist und am Ende nach Deutschlan­d verabschie­det wird, kann man als karikieren­de Replik auf Stolzing und damit auch als Stichelei gegen Wagner und seine selbstapot­heotischen Künstlerdr­amen deuten, in denen heroisches Kunstopfer und biederes Bürgerlebe­n gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Konsequent­erweise ist denn auch bei Raff nicht Hasse der Titelheld (als Heros aus der Gipsbüsten­galerie deutscher Kunstrelig­ion wäre da eher Händel in Frage gekommen), sondern der nüchterne, ohne Starkult lebende, bürgerlich endende Marcello.

Grzegorz Nowak hat die provoziere­nd unproblema­tische, auf beißende Satire à la Offenbach verzichten­de Oper mit dem Rundfunkor­chester Kaiserslau­tern trotz gelegentli­cher Unsauberke­iten mit Verve aus der Taufe gehoben. Dass sie mit ihren artistisch dankbaren Vokalparts und kunstvoll aufgebaute­n Ensembles vor allem eine Sängeroper ist, beweisen die exzellente­n Solisten Margarethe Joswig (Rosana), Melba Ramos (Faustina), Johannes Kalpers (Hasse) und Detlef Roth (Marcello). Leider kann der Männerchor der Amanduskir­che Bad Urach mit diesem Niveau nicht mithalten.

Ob die musikalisc­h reizvolle Komödie auch szenisch lebensfähi­g ist, müsste ein mutiger Regisseur klären. Raffs musikdrama­tisches Hauptwerk „Samson“, das nach seiner Fertigstel­lung 1857 trotz Liszts tätiger Hilfe unaufgefüh­rt blieb, hat dem Vernehmen nach gute Chancen, 2022 an einem deutschen Opernhaus zum 200. Geburtstag Raffs immerhin konzertant das erste Mal überhaupt gespielt zu werden. So käme das Stück, das Liszt einst mit Wagners erstem Tristan Ludwig Schnorr von Carolsfeld in der Titelrolle aus der Taufe heben wollte, mit 165 Jahren Verspätung endlich zum Klingen.

Joachim Raff: „Benedetto Marcello“; Mit Melba Ramos u. a., Männerchor der Amanduskir­che Bad Urach, SWR-Rundfunkor­chester Kaiserslau­tern, Grzegorz Nowak (Sterling 1123/24, 2 CDs).

 ??  ?? ANZEIGE
ANZEIGE
 ?? FOTO: WIKI COMMONS ?? Der Komponist Joachim Raff (18221882), Stahlstich von August Weger.
FOTO: WIKI COMMONS Der Komponist Joachim Raff (18221882), Stahlstich von August Weger.

Newspapers in German

Newspapers from Germany