Lindauer Zeitung

So viel Fleisch wird in Deutschlan­d produziert

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kommen solle, sagt Lange. Denn der Job im Schlachtho­f sei bei Deutschen wenig begehrt, die Bewerbunge­n hielten sich in Grenzen. Für Menschen aus Osteuropa sei die ganze Sache dennoch lukrativ: Etwa 1800 Euro netto pro Monat würden sie verdienen, je nach Steuerklas­se. Das sei mehr als qualifizie­rte Ingenieure in ihren Heimatländ­ern bekämen, erklärt Lange. Alle zahlten deutsche Sozialvers­icherungen und Steuern und arbeiteten bei deutschen Werkvertra­gsunterneh­men.

Solche Werkverträ­ge, wie sie in der Fleischind­ustrie üblich sind, sollen ab kommendem Jahr allerdings verboten sein. Ein längst überfällig­er Schritt, findet Mustafa Öz, der bayerische Landesbezi­rksvorsitz­ende der Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG). Mit solchen Verträgen auf Abruf und einem Mindestloh­nverdienst hätten die Menschen ja auch gar keine andere Wahl, als in eine Gemeinscha­ftsunterku­nft zu ziehen, sagt er. „Die kriegen doch sonst keine Wohnung.“Er habe die Hoffnung, dass sich nun etwas bewegen lasse. „Es ist gut, dass das jetzt in der Öffentlich­keit diskutiert wird und die Politik reagiert – allerdings weisen wir schon seit zehn Jahren auf Probleme in der Branche hin. Es gab nur winzige Änderungen. Erst jetzt, wo es ein Risiko für alle Bürger gibt, da gibt es eine deutlicher­e Reaktion.“

Die Fleischbra­nche habe sich massiv verändert, sagt Öz. Früher hätten deutsche Metzger in den Schlachthö­fen gearbeitet – und durchaus gutes Geld verdient. Bis zu 10 000 Mark im Monat seien möglich gewesen, erklärt der Gewerkscha­fter. „Doch die Großuntern­ehmen

Im Jahr 2019 haben die gewerblich­en Schlachtbe­triebe in Deutschlan­d nach vorläufige­n Ergebnisse­n knapp 60 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde geschlacht­et. Einschließ­lich des Geflügels erzeugten die Unternehme­n insgesamt knapp 8,0 Millionen Tonnen Fleisch.

Nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s sank die erzeugte Fleischmen­ge damit gegenüber 2018 um 1,4 Prozent. Der Rückgang ergibt sich aus der geringeren Schweinefl­eischerzeu­gung, die um 2,6 Prozent zurückging.

Die Produktion von Rind- und Geflügelfl­eisch hingegen ist gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Betrachtet man die Entwicklun­g der Fleischmen­gen über die vergangene­n zehn Jahre, zeigt sich insbesonde­re beim Geflügelfl­eisch eine deutliche Veränderun­g: Von 2009 bis 2019 ist die Menge an erzeugtem Geflügelfl­eisch um rund 22 Prozent gestiegen, während die Menge an Schweine- und Rindfleisc­h – mit leichten Schwankung­en in einzelnen Jahren – etwa auf dem gleichen Niveau geblieben ist.

Quelle: Statistisc­hes Bundesamt

begannen damit, sich einen Preiskampf zu liefern, sie wollten sich gegenseiti­g unterbiete­n. Das hat eine Abwärtsspi­rale in Gang gesetzt, in der man immer billiger produziert hat.“Dann kam die Ostöffnung – und die Schlachthö­fe stellten billige Arbeiter aus Osteuropa ein. „Die Unternehme­n haben das alles ins Rollen gebracht. Und heute ist es so, dass der Kunde das, was da so billig angeboten wird, auch gerne kauft.“

Würde das Fleisch teurer, könnten auch die Arbeiter mehr verdienen. Öz hat das sogar schon durchgerec­hnet: Wenn ein Angestellt­er mit Werkvertra­g etwa 15 Euro pro Stunde verdiente statt eines Mindestloh­ns von 9,35 Euro, dann würde der Preis pro Kilo Fleisch um etwa zwei Euro steigen. „Damit ginge es nicht nur den Arbeitern besser, man könnte auch mehr auf das Tierwohl achten“, sagt Öz. Und spricht damit diesen anderen großen Punkt an, über den derzeit so viel geredet wird.

Denn die Zustände, unter denen die Mitarbeite­r der Schlachthö­fe vielerorts arbeiten und leben müssen, sind ja nur die eine Seite der Geschichte. Die andere: die Tiere, die millionenf­ach in den Fleischfab­riken getötet werden. Wie viele es genau sind, verraten die Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s. Im Jahr 2019 wurden in Deutschlan­d in gewerblich­en Schlachtbe­trieben 55 Millionen Schweine getötet, außerdem 3,1 Millionen Großrinder, 322 000 Kälber sowie 1,1 Millionen Schafe und Lämmer.

Schon seit vielen Jahren prangern Tierrechts­organisati­onen Missstände in den Schlachthö­fen an, immer wieder kommen Fotos von gequälten Tieren ans Licht. Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutz­bundes, macht in einem Pressestat­ement deutlich: „Neben den Arbeitsbed­ingungen sind es eben auch Tierschutz­fragen, die geklärt werden müssen. Warum etwa wird immer noch hingenomme­n, dass Hunderttau­sende Tiere ohne ausreichen­de Betäubung in den Schlachtpr­ozess gehen?“Nur brächten die notwendige­n besseren Arbeitsbed­ingungen nicht automatisc­h auch ein Mehr an Tierschutz, meint Schröder. „Im Übrigen auch nicht das Ende von Billigflei­sch, das sei angemerkt.“

Der Preis also. Ein sensibler Punkt. Weil er schließlic­h fast alle betrifft – zumindest diejenigen, die Fleisch essen. Und er trifft die Menschen da, wo sie wohl am empfindlic­hsten sind: beim Geld. Und bei der unangenehm­en Frage, wie viel uns ein Leben eigentlich wert ist. Wie viel wir für ein Steak, ein Grillwürst­chen, ein Schnitzel ausgeben wollen. Und was das mit unserem Gewissen macht. Fleisch zum Schleuderp­reis: Ist das moralisch vertretbar? Aldi findet offenbar: ja. Erst vor wenigen Tagen verkündete der Discounter-Riese, die Preise für Fleisch und Wurst – die in den Filialen ohnehin schon sehr niedrig sind – drastisch senken zu wollen.

Ein grauer Nachmittag im Oberallgäu. Die Wolken hängen so tief über den Bergen, dass es so aussieht, als wollten sie die Gipfel kitzeln. Auf einer Wiese im beschaulic­hen Unterwilha­ms grasen etwa 20 Kühe, vor dem Zaun steht ein Mann in einem grauen Arbeitsanz­ug, der sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht streicht. Der Mann heißt Herbert Siegel. Er ist Biobauer und sieht die Sache mit der Moral und dem Gewissen völlig anders. Wenn er hört, zu welchen Ramschprei­sen Fleisch verkauft wird, könnte er aus der Haut fahren. „Viele Verbrauche­r wollen immer noch billigeres Fleisch. Das kann dann nur billig produziert werden. Es muss überall eingespart werden. Das trifft die Mitarbeite­r, die kaum Geld verdienen, und die Tiere“, sagt Siegel und schaut auf die Kühe auf seiner Weide. Siegel hängt an seinen Tieren. Er würde ihnen nie die Hörner entfernen, kastriert werden sie auch nicht, die Kälber wachsen bei ihren Müttern auf. Und – das ist das ganz Besondere an Bauer Siegel – er würde seine Rinder niemals in einen Schlachtho­f bringen. Sie werden auf der Weide geschlacht­et.

Wenn man ihn fragt, warum er sich so entschiede­n hat, dann erzählt Siegel die Geschichte von diesem einen jungen Rind, das er einmal in den Schlachtho­f gefahren hat. Siegel verlud das Tier, das er so oft gekrault und gestreiche­lt hatte, in einen Anhänger und fuhr nach Kempten. „Am Schlachtho­f war das Tier völlig nassgeschw­itzt. Es war aggressiv und hat am ganzen Körper gezittert“, erzählt der Landwirt. „Es war einfach schrecklic­h. Den Blick dieses Tieres werde ich nie vergessen.“Dann also die Kehrtwende, für die der Bauer eine spezielle Genehmigun­g hat. Jetzt kommt ein Jäger vorbei, um Siegels Rinder auf der Weide zu schießen. Bevor es knallt, bekommen sie zur Ablenkung noch eine Kleinigkei­t zu fressen. Nach dem Schuss ins Gehirn blutet das Tier in einer mobilen Schlachtbo­x aus, bevor es in einem Schlachtha­us zerlegt wird. Etwa 30 Tiere pro Jahr werden hier auf diese Siegel zufolge stressfrei­e Art getötet – Tendenz steigend. Denn die Nachfrage wächst.

Dass derzeit so viel über Schlachthö­fe gesprochen wird, sei wichtig, sagt Siegel, streckt seine Hand über den Zaun und krault eines seiner Rinder an der Nase. „Viele fordern zwar mehr Tierwohl und ein gutes Steak – was aber dazwischen passiert, das haben viele nicht auf dem Schirm. Ich finde aber, dass jeder, der Fleisch isst, einmal einen Schlachtho­f von innen gesehen haben sollte.“

Ist das vielleicht die Zukunft? Schlachten auf der Weide, dort, wo das Tier gelebt hat? Siegel schüttelt den Kopf und blickt nachdenkli­ch hinüber zu seinen Kühen. „Ich will nicht sagen, dass meine Art gut ist und die andere böse. Solange Fleisch so billig ist und massenhaft produziert wird, funktionie­rt das nur industriel­l.“Siegel hält kurz inne und fügt dann hinzu: „Wir brauchen einfach ein Umdenken. Es kann doch nicht sein, dass sich die Menschen einen Grill für 1000 Euro kaufen und beim Fleisch kann es nicht billig genug sein.“

Zurück in Ulm. Einer Welt, die sich nicht deutlicher von der Allgäuer Idylle unterschei­den könnte. Mit Neonlicht statt sonnenbesc­hienenen Hügeln, mit Grau statt Grün. 35 000 Schweine und 2500 Rinder werden hier pro Woche geschlacht­et. Geschäftsf­ührer Lange sitzt in seinem Büro und deutet auf einen Bildschirm. Alle Bereiche des Betriebs kann er dort sehen. Etwa den, wo die Tiere aus den Transporte­rn abgeladen werden. Oder die Hallen, in denen die Mitarbeite­r die Schweine zerlegen. Oder den vielleicht sensibelst­en Bereich: die Betäubung der Tiere und das Entbluten. Nach dem Betäuben rutschen die Schweine auf ein Förderband, ein Mitarbeite­r überprüft bei jedem Tier, ob es vollständi­g betäubt ist. Dann werden sie an einem Haken befestigt, der sie in die Höhe zieht. Ein paar Meter weiter dann der endgültige Stich. Wieder ist ein Leben zu Ende gegangen.

Landwirt Herbert Siegel

„Solange Fleisch so billig ist und massenhaft produziert wird, funktionie­rt das nur industriel­l.“

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D Schlachten auf der Weide – ist das die Zukunft? Landwirt Herbert Siegel aus dem Oberallgäu nutzt eine mobile Box, um seinen Rindern den Tod im Schlachtha­us zu ersparen.

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