Lindauer Zeitung

Auf der Flucht geboren

LZ-Serie zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren – Teil 12: Wie es Menschen auf der Flucht erging

- Von Florian Bührer

- 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert die „Lindauer Zeitung“an die Zeit damals. Im 12. Teil berichtet Stephanie Gräfin von Hoyos von der Flucht ihrer Familie aus Schlesien.

Stephanie Gräfin von Hoyos ist auf der Flucht zur Welt gekommen. Ihre Mutter flüchtete im Januar 1945 aus Schlesien in den Westen. Das Kriegsende erlebte die Familie im Norden der Republik, ihr Glück fand Stephanie von Hoyos später im Süden. Krieg, Flucht und die Nachkriegs­zeit – in der heutigen Zeit denkt sie häufig daran. So manches erscheint ihr leidlich aktuell.

Im Winter 1944 versuchte die Wehrmacht verzweifel­t, den Vormarsch der Alliierten im Westen zu stoppen. Die „Ardennen-Offensive“scheiterte und verzögerte den Angriff der Alliierten nur um wenige Wochen. Im Osten blieb es bis zum Jahresende 1944 verhältnis­mäßig ruhig. An der Weichsel zog die Sowjetunio­n Millionen Soldaten sowie zehntausen­de Panzer, Kampfflugz­euge und Geschütze für den finalen Stoß gegen das Reich zusammen. Im Januar 1945 marschiert­e die Rote Armee quer durch Polen nach Schlesien, die deutsche Wehrmacht zog sich zurück. Der fanatische NSDAPGaule­iter Karl Hanke lehnte eine Evakuierun­g der Zivilbevöl­kerung strikt ab. Personen, die gen Westen flüchteten, sollten hingericht­et werden.

Stephanies Mutter, Ebba Gräfin von Hoyos, war klar: Deutschlan­d wird den Krieg verlieren. Ihr Mann war Soldat und verstarb im Alter von 34 Jahren. Vorher hatten die Eheleute ein Codewort ausgemacht. Fällt dieses, dann sollte sich die Familie auf den Weg in Richtung Westen machen. Mitte Januar sei das gewesen, erinnert sich Stephanie von Hoyos. Ihre Mutter sei damals 25 Jahre alt gewesen. Und hochschwan­ger. Schnell packte die Familie das Nötigste. Schlecht ausgerüste­t und ohne ausreichen­d Nahrung zogen sie los. Am 1. Februar wurde dann Stephanie in einem Lazarett in Plagwitz geboren. Zeit zum Ausruhen blieb ihrer Mutter nicht. Schnell ging sie zurück in den Treck und marschiert­e weiter. Der mehrmonati­ge Fluchtweg führte zu Verwandten in Lüneburg.

Dort erlebten sie auch das Kriegsende am 8. Mai.

Im November 1945 endete die Flucht dann in Niederbaye­rn. Genauer gesagt in der Gemeinde Ering an der österreich­ischen Grenze. Braunau am Inn liegt keine 15 Kilometer entfernt. Dort kamen sie, ihre kleine Schwester und ihre Mutter bei Verwandten unter. „Die hatten da ein Gut“, erklärt sie. Wie sie in den Süden gekommen sind, weiß sie nicht. „Da verliert sich die Spur.“

Ihre Mutter habe zunächst große Probleme gehabt. „Sie verstand in ihrer neuen Heimat kein Wort.“Sie hatte ihren Ehemann, ihr Vermögen und all ihren Besitz verloren. Lediglich frei war sie nun. Innerhalb von Wochen war sie heimatlos geworden. Fremd im eigenen Land traf auf sie zu. Den Großeltern schrieb sie viele Briefe. Die seien zunächst in Schlesien geblieben und erst später nachgekomm­en.

Später ging Stephanie in Bayern zur Schule. An ihre Kindheit erinnert sie sich gerne. „Die ersten fünf, sechs Jahre waren sehr schön.“Es gab viele Kinder. „Wir hatten viel Platz zum Spielen.“Aber natürlich war auch in der Familie der Hunger ein Thema. „In der Verwandtsc­haft gab es häufig Streit“, sagt sie. „Keiner gönnte dem anderen das Essen.“Sie dachte damals ganz pragmatisc­h: „So ist das halt.“

Rund zwölf Millionen Deutsche flohen nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat. Oft freiwillig, meist unfreiwill­ig. Über die Gebiete, die ehemals deutsch waren, sprach man in der Nachkriegs­zeit allerdings lange nur verschämt. Wie schwer es Flüchtling­skinder hatten, merkt Stephanie in ihrer Schulzeit. „Wir wurden öfters vermöbelt,“sagt sie. Öfters habe ihr jemand eine herunterge­hauen. Einfach so. „Wir waren sozusagen Eindringli­nge“. Die von weit weg her kamen, anders sprachen, nichts verstanden und überhaupt anders waren. Wie sich die Zeit doch wiederholt. Erinnerung­en an die geflüchtet­en Kinder 2015 kommen hoch. Die Identität ist auf einmal weg, und man muss von vorne anfangen.

So langsam spielte sich der Alltag ein. Er musste es. Ihre Mutter musste zu Geld kommen. Sie hatte eine Schreibmas­chinenausb­ildung und ging von nun an arbeiten. „Sie musste einfach funktionie­ren“, beschreibt Stephanie von Hoyos ihre Mutter Jahrzehnte später. Zeit zum Lamentiere­n hatte sie nicht.

Eine Frau, die arbeitete, galt für viele als egoistisch. Ihre Kinder wurden als Schlüsselk­inder diffamiert. Auch Stephanie war ein solches Schlüsselk­ind. Sie rutschte sehr früh in die Rolle einer Erwachsene­n und musste die Last der Mutter mittragen. Ohne zu klagen. Sie selbst arbeitete viele Jahre als Bibliothek­arin in München. Heute lebt sie mit ihrem Mann, dem Komponiste­n Nikolaus Brass, in Lindau und arbeitet als Künstlerin. In

Reutin hat sie ein Atelier

Dort denkt sie momentan häufig an diese Zeit zurück. Die Monate oder Jahre nach dem Krieg waren eine Ausnahmesi­tuation. „Aber wir waren ja selber Schuld an der Misere.“Deutschlan­d wollte die ganze Welt beherrsche­n. Allmachtsf­antasien. 1945 lag das Land dann in Trümmern. „Am Nullpunkt.“So schlimm sei es heute natürlich nicht, aber auch die Coronakris­e rüttele alles gehörig durcheinan­der, sagt sie. Ohne Vorwarnung wurden wir aus unserem Leben herausgeri­ssen. Die Wirtschaft droht zusammenzu­brechen, viele Menschen fürchten sich vor Arbeitslos­igkeit und wissen nicht, wie es weitergehe­n wird. „Vielleicht sollten wir mit dem Streben nach immer mehr Geld und Macht nun einmal aufhören“, glaubt sie. Das Coronaviru­s stellt auch die Zukunft der Globalisie­rung infrage. „Wir waren völlig rücksichts­los.“Früher und heute.

Stephanie Gräfin von Hoyos

„Keiner gönnte dem anderen das Essen.“

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FOTO: ECPAD IVRY/ PARIS Am 20. Juni 1945 beginnt die erste Verhandlun­g des französisc­hen Militärtri­bunals im Alten Rathaus.

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