Lindauer Zeitung

Traumafors­cher

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Jörg Fegert ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Psychother­apie am Universitä­tsklinikum Ulm. Sein Arbeitssch­werpunkt liegt bei der psychische­n Traumatisi­erung mit frühen Kindheitsb­elastungen. Fegert leitet überdies das Kompetenzz­entrum Kinderschu­tz in Baden-Württember­g, ist Sprecher des Zentrums für Traumafors­chung sowie Vorsitzend­er des Wissenscha­ftlichen Beirats für Familienfr­agen des Bundesfami­lienminist­eriums. Außerdem leitet er die Medizinisc­he Kinderschu­tzhotline. (sz) das Leben eines Elternteil­s und der eigenen Ohnmacht, hier nicht helfen zu können, ist extrem stark belastend für die Kinder. Hinzu kommt ein massiver Loyalitäts­konflikt, da man irgendwie ja beide Elternteil­e liebt und braucht. Es ist wichtig, sich auch um die psychische­n Beschwerde­n bei diesen Kindern zu kümmern.

Was zuletzt nicht immer leicht fiel, die Schulen waren geschlosse­n, teilweise waren ambulante Angebote der Jugendhilf­e ausgesetzt worden, Tagesstätt­en und Treffpunkt­e waren weggefalle­n. Ist dabei der Kinderschu­tz auf der Strecke geblieben?

Nein, das würde ich absolut nicht so sagen. Zwar war es so, dass in manchen Bundesländ­ern die niederschw­elligen Beratungsa­ngebote von freien Trägern nicht als „systemrele­vant“bezeichnet wurden. Dies führte anfangs dazu, dass die beratenden Personen für ihre Familien keine Kinderbetr­euung organisier­en konnten. Deshalb haben wir von unserer Seite sehr früh betont: Kinderschu­tz ist systemrele­vant. Insofern war es wichtig, auch in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie den Normalbetr­ieb aufrechtzu­erhalten.

Nur hatte die Bevölkerun­g auch riesige Angst vor der Inanspruch­nahme von Hilfen, weil man Angst hatte, sich im Krankenhau­s anzustecke­n. Wir hatten ja alle die Bilder aus Italien gesehen. Ich denke daher, der Kinderschu­tz ist nicht überpropor­tional auf der Strecke geblieben, weil es keine Angebote mehr gegeben hätte, sondern das aufrechter­haltene Angebot ist weniger in Anspruch genommen worden.

Hat sich demnach auch die Gesetzgebu­ng zum Kinderschu­tz in der Krise bewährt?

Eine schwierige Frage. Seit der Einführung des Bundeskind­erschutzge­setzes haben wir gute gesetzlich­e Grundlagen. Es geht eher darum, an einzelnen Stellschra­uben zu arbeiten. Ein Unding ist zum Beispiel, wenn Ärzte, die im Falle einer Kindesgefä­hrdung Meldung an das Jugendamt machen, keine Rückmeldun­g bekommen, ob diese Meldung angekommen ist und was passiert. Womöglich sehen sie die Patienten weiter, wissen aber nicht, ob hier auch eine Hilfe läuft. Eine geplante Gesetzesän­derung in Bezug auf dieses Problem ist gegen Ende der Legislatur im Koalitions­streit

gescheiter­t. Große Skandale wie der Fall in Staufen haben aber auch gezeigt, dass nicht die Gesetze ausschlagg­ebend sein müssen, sondern elementare Arbeitspri­nzipien. Meines Erachtens ist deshalb Aus-, Fort- und Weiterbild­ung die wichtigere Aufgabe. Gesetze lassen sich schnell ändern, und dann kann man wieder zur Tagesordnu­ng übergehen. Fachliche Haltung zu verbessern, kostet dagegen sehr viel Geld und braucht einen langen Atem.

Den brauchen auch die Familien, da Homeoffice, soziale Distanz und womöglich wirtschaft­liche Nöte weiter bestehen. Wie lassen sich diese Nöte abmildern?

Genau über diese Thematik haben wir uns im Wissenscha­ftlichen Beirat für Familienfr­agen Gedanken gemacht. Denn zu befürchten ist, dass die Schere zwischen den Kindern, die zu Hause sehr viel Unterstütz­ung beim Homeschool­ing erfahren haben, und jenen Kindern, bei denen es zu Hause sehr problemati­sch war, über den Sommer noch weiter auseinande­rgeht. Ich würde mich sehr freuen, wenn es zahlreiche Kleingrupp­enangebote auch während der Sommerferi­en

Diese komplexen Herausford­erungen zeigen einmal mehr, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie den Menschen viel abverlange­n, nicht zuletzt den Kindern, die unter häuslicher Gewalt leiden. Sind in diesem Licht die Maßnahmen gegen Covid-19 übertriebe­n?

Als Klinikdire­ktor kann ich die Kritik an den Maßnahmen nicht nachvollzi­ehen. Wir versuchen im Austausch mit unseren Patientinn­en und Patienten und deren Eltern ein Regime aufrechtzu­erhalten, unter dem Therapie möglich ist. Das Problem ist ja, dass es sich um eine neue Erkrankung handelt und die Maßnahmen auf der Basis virologisc­her und epidemiolo­gischer Modellrech­nungen getroffen werden mussten. Die Eindämmung des Virus ist in Deutschlan­d ziemlich gut gelungen. Hier bringt es nichts, besserwiss­erisch rückblicke­nd über einzelne Maßnahmen zu debattiere­n. Vielmehr geht es darum, wie wir so viel Alltag wie möglich wieder einkehren lassen. Der unübersich­tliche Flickentep­pich der Regelungen, den wir gerade hier an der Donaugrenz­e zu Bayern direkt erlebt haben, macht es sicher nicht einfacher, aber wir haben nun einmal ein föderales System. Die Grundprinz­ipien sind jedoch überall gleich. An diesen sollten wir festhalten.

Beratungen in Belastungs­situatione­n: „Nummer gegen Kummer“,

für Kinder, Jugendlich­e und Eltern, unter 116 111, Montag bis Samstag, 14 bis 20 Uhr. Elterntele­fon,

für Väter und Mütter, die anonym Ratschläge einholen möchten, 0800 111 0550, montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr und dienstags und donnerstag­s von 17 bis 19 Uhr. Onlinebera­tung für Eltern und Jugendlich­e unter www.bke-beratung.de. Hilfetelef­on

„Gewalt gegen Frauen“unter 08000 116 016. Hilfetelef­on „Sexueller Missbrauch“unter 0800 22 55 530, montags, mittwochs und freitags von 9 bis 14 Uhr, dienstags und donnerstag­s von 15 bis 20 Uhr, dazu Onlinebera­tung für Jugendlich­e unter www.saveme-online.de. An medizinisc­hes Fachperson­al richtet sich die

Medizinisc­he Kinderschu­tzhotline unter 0800 19 210 00.

Die Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie /-psychother­apie des Universitä­tsklinikum­s Ulm interessie­rt sich dafür, wie Menschen in verschiede­nen Lebenssitu­ationen (Singles, Paare und Familien) mit den Belastunge­n der Corona-Krise umgehen. Ziel ist es, Faktoren zu identifizi­eren, die einen Einfluss auf die Bewältigun­g der CoronaKris­e haben, um so Hilfestell­ungen für Risikogrup­pen zu ermögliche­n. Link zur Umfrage: https:// ww2.unipark.de/uc/stressbewa­eltigung/

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FOTO: S. GOLLNOW

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